Alltag in Rumänien: Abtreibung statt Pille

Soziales Rumänischer Kinofilm greift ein bedrückendes Thema auf. In der Ceausescu-Diktatur waren Schwangerschaftsabbrüche verboten. Heute sind sie Verhütungsmittel Nummer eins.

06.12.2007 | Stand 06.12.2007, 0:00 Uhr

Von Annett Müller, n-ost

Bukarest. Im Patientenraum eines Bukarester Krankenhauses ein blauer Linoleumboden, aus Neonröhren fällt kaltes Licht. An der Tür steht: „Abtreibungssalon“. Sechs Betten im Raum – alle sind belegt. Intim ist hier nichts, stattdessen herrscht Hektik, in der Tür warten schon die nächsten Frauen. Einen Termin hat fast niemand. Wer zu den vormittäglichen Öffnungszeiten kommt, wird behandelt.

Gina, eine Bukaresterin, fragt ihre Bettnachbarin: „Das erste Mal?“ Sie antwortet: „Und das letzte Mal!“ Auf ihrer Stimme liegen Tränen. „Das nützt nichts, wenn Du weinst“, rät ihr Gina. Sie selbst wird sich später eine Beruhigungsspritze geben lassen. Die junge Frau ist am Morgen mit einer Plastiktüte gekommen. Darin ein Bademantel, Hausschuhe, ein Päckchen Zigaretten, ein paar rumänische Lei als Bakschisch für die Schwestern und die Ärztin. Die 30-jährige Gina weiß, was sie für den morgendlichen Krankenhausbesuch braucht. Sie hat vor einem Jahr schon einmal abgetrieben.

Gina hat zwei Jungs. Ein drittes Kind? Ja, sie hat darüber nachgedacht, sie wünscht sich ein Mädchen. Sie wird sich, wenn sie später auf dem Gynäkologie-Stuhl liegt, den Wunsch entfernen lassen. Wie soll sie drei Kinder versorgen, mit dem Gehalt, das ihr Mann als Fernfahrer verdient? Die anderen Frauen nicken. Der Abtreibungssaal wirkt jetzt wie ein kollektiver Beichtraum, gesündigt, sagen die Wartenden, wird ein paar Minuten später. Ginas Mann weiß nicht, dass sie abtreibt: „Was soll er mir auch raten? Schließlich bin ich für die Kinder zuständig.“

Es gibt in Rumänien mehr Unwissen als Wissen über Verhütungsmittel - nicht zuletzt deshalb hat das Land mit derzeit jährlich rund 150000 Abtreibungen die höchste Quote in Europa. Gründe gibt es viele: Regelmäßige Aufklärungskampagnen des Gesundheitsministeriums fehlen, wenngleich das Thema bis in jedes Dorf getragen werden müsste. Aber selbst im Biologieunterricht wird es ausgespart.

Die Gynäkologin Ruxandra Dumitrescu weiß das aus eigener Erfahrung und erlebt regelmäßig, dass ihre Patientinnen wegen fehlender Informationen zu spät kommen. Bereits schwanger, denken die Frauen, dass Abtreibung nicht nur der letzte Weg, sondern auch die einzige Lösung sei. „Nicht die Armut, sondern Unwissenheit ist schuld an unserer hohen Quote“, sagt Dumitrescu, „ich muss viele erst einmal darüber aufklären, dass man nicht schwanger werden muss, sondern kann.“ Zeit würde vieles ändern, meint die Ärztin, die eine psychologische Beratungspflicht vor der Abtreibung befürwortet wie beispielsweise in Deutschland.

Wenn Frauen eine Bedenkzeit hätten, „würde sich die Mehrheit für ein Kind entscheiden, auch für ein drittes“, sagt die Gynäkologin. „Doch in unserem hektischen Gesundheitswesen spricht niemand die Seele an.“ Hinzu kommt: Eine Abtreibung ist in Rumänien erschwinglich. Umgerechnet 20 Euro kostet sie in staatlichen Krankenhäusern und ist damit „billiger als die Pille“ – so argumentieren die Frauen im Abtreibungs-Wartesaal. Warum sich also nach Alternativen umsehen?

„Ich habe abgetrieben!“ – Für diesen Satz wäre Maria vor der Wende zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Noch heute will sie ihren Namen nicht nennen, „weil das Erlebnis zu beschämend ist, auch wenn es Teil meines Leben war.“ Hunderttausenden Frauen ist es ähnlich ergangen. Sie haben trotz des rigiden Verbots, das der einstige rumänische Diktator Nicolae Ceausescu erlassen hatte, illegal abgetrieben. Das Dekret aus dem Jahr 1966 war ein erster Vorbote von Ceausescus Vision, eines Tages nicht nur Herrscher eines Landes, sondern einer großen Nation zu sein.

Deshalb ließ Ceausescu nicht nur Abtreibungen, sondern auch jegliche Verhütungsmittel verbieten: Kondome, Pille und den Verhütungskalender. Mit diesen drakonischen Regeln kroch der Diktator in jedes Ehebett. Erst mit fünf Kindern hatte seiner Meinung nach „die Frau ihre Aufgabe erfüllt“. Wenn sie zehn Kinder gebar, wurde sie als „Heldenmutter“ ausgezeichnet. In einem lebenswerten und damit familienfreundlichen Land wäre eine solch rigide Familienpolitik nicht nötig gewesen. Doch die Wirklichkeit in Rumänien sah anders aus, spätestens in den 80er Jahren war sie unerträglich geworden: Heizung, Strom und Lebensmittel wurden bis aufs Minimum rationiert, an Redefreiheit nicht mehr zu denken.

Als Maria Anfang der 80er Jahre ein drittes Mal schwanger wurde, war sie verzweifelt. Doch Angst, wegen einer Abtreibung zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden, hatte sie keine. „Mein Alltag war doch schon ein Gefängnis“, sagt sie rückblickend über das Ceausescu-Regime. Maria hat mehrere Anläufe unternommen, um abzutreiben – im Selbstversuch. Sie trank den Sud aus einem Kilogramm Petersilienwurzeln, sie badete in heißem Wasser – nichts half. Eine Biologielehrerin riet ihr schließlich zu einer Sonde, die sie nicht vergessen sollte, abzukochen. Marias Verzweiflung „war damals meine einzige Kraft“. Zwei Tage hat es gedauert, vielleicht auch länger, die Sonde in den Gebärmutterhals einzuführen. „Ich gehörte zu einer Generation von Ignoranten, die den eigenen Körper nicht kannte.“ Maria hatte Glück im Unglück: Als Komplikationen auftraten, fand sie Ärzte, die den Mut hatten, ihr zu helfen. Sie beriefen sich auf den hippokratischen Eid statt auf Ceausescus Dekret.

Die illegalen Methoden lassen die Schwermut jener Jahre erahnen: Nadeln, dicke Pflanzenstiele und giftige Säuren sollten den Fötus lösen. Dafür gingen die Frauen zu Wunderheilern, zu Engelmachern, zum Metzger. Der Eingriff glich einem Selbstmord, den man hoffte, zu überleben. Mindestens 10000 Frauen verloren beim illegalen Abtreibungsversuch in Rumänien ihr Leben. Sie hatten sich lebensgefährlich infiziert und oftmals Angst, in eine Klinik zu gehen. Dort hätten sie sich rechtfertigen müssen.

Als eine ihrer ersten Amtshandlungen hob die rumänische Regierung nach der Wende das Abtreibungsverbot auf. Statt eines Baby-Booms folgte ein Abtreibungsboom: Knapp eine Million Fälle wurden 1990 registriert – das Volk schien im Freiheitsrausch das Menschenrecht auf Selbstbestimmung auszukosten, auf das man in schwerster Not verzichten musste. Heute kann Selbstbestimmung ganz anders interpretiert werden. Verhütungsmittel gibt es in Hülle und Fülle. „Die Leute denken in ihrer Unwissenheit, was früher geholfen hat, muss auch heute gut sein und blenden die Realität aus“, sagt Gynäkologin Ruxandra Dumitrescu.