Archäologie

34.000 Jahre nach seinem Tod wird ein Essinger zum Star

20.06.2022 | Stand 15.09.2023, 4:42 Uhr
Ausstellungsleiterin Jennifer Morscheiser zeigt das Skelett aus Neuessing. Es ist der Star der „Eiszeit“-Ausstellung. −Foto: Fotos: Lorenz Erl

Auch Essing hat seinen „Ötzi“. Vor gut 100 Jahren bargen Archäologen in einer der Klausenhöhlen ein Skelett - den „Mann von Neuessing.“ Jetzt, rund 34000 Jahre nach seinem Tod ist er ein Star - und die Stadt Rosenheim bereitet ihm eine große Bühne.

Das Fleisch des Mammutkalbs, das seine Gruppe erlegt hatte, hat ihm gut geschmeckt. Als Oberhaupt seines Clans weiß der alte Mann aus der Erfahrung vieler Jahre, wo die Tiere zur Tränke an die Altmühl kommen. Darum haben er und die anderen Männer der Gruppe dort gelauert, ob Pferde, Wollnashörner, Rentiere oder doch Mammute ihren Durst stillen möchten.



Er hatte eine „Zahnbürste“

Mit ihren Wurfspeeren konnten sie ein Kalb aus der kleinen Herde so schwer verletzen, dass sie es eine Stunde später in der Fluchtspur der Herde fanden. Genussvoll stochert der nur 1,63 Meter große Clanchef mit einem kleinen Holzpfriem die letzten Fleischreste aus seinen Zahnlücken. Dann setzt er sich wieder zu den anderen 23 Mitgliedern seiner Gruppe und macht sich daran, aus einem Feuerstein eine scharfe, lindenblatt-förmige Speerspitze zu schlagen. Es sollte der letzte Abend sein, den der etwa 50-Jährige erlebt. Am nächsten Morgen liegt er tot auf seinem Fellbett im aus Lederstücken zusammengenähten Zelt. Er ist ohnehin recht alt geworden für seine Zeit. Seine Familie bestattet ihn in der mittleren Klausenhöhle bei Essing und deckt seinen Leichnam mit roter Erde zu. Gut 34000 Jahre sollte der Mann dort liegen, bis ihn Archäologen am 4. Oktober 1913 bei Grabungen finden. Seit fünf Jahren sind zu dieser Zeit die Klausenhöhlen ein beliebter Biergarten.

In diesem Sommer nun ist der Mann aus Neuessing das unbestrittene Highlight in der Ausstellung „Eiszeit“ im Lokschuppen von Rosenheim. Denn normalerweise wird das Skelett im Archiv der Staatssammlung für Anthropologie in München aufgewahrt.

Der Mann war ein anatomisch moderner Mensch, die den Neandertalern sowohl im Altmühltal als auch in ganz Europa nachfolgten. Es waren die gleichen Menschen wie wir. „Wenn man mit einer Zeitmaschine 30000 Jahre zurückreisen könnte, ein Kleinkind in unsere Zeit brächte und in unserer Weise erziehen würde, könnte es das Abitur schaffen“, unterstreicht die Ausstellungsleiterin Jennifer Morscheiser im Gespräch mit unserer Zeitung.

Er hatte eine Zahnbürste

Und es ist erstaunlich vieles, was Wissenschaftler aus den uralten Knochen alles erfahren konnten. Aus der Isotopenuntersuchung des Zahnschmelzes geht hervor, dass der Mann von Neuessing in seinen ersten sieben Lebensjahren das Altmühltal kaum verlassen hat. Auch danach ist er nicht weit herumgekommen. Seine Ernährung bestand überwiegend aus dem Fleisch von Mammut, Pferden, Rentieren, Wollnashörnern und Hirschen. Rillen an den Zähnen zeigen, dass er mit einem Holzstab auch Zahnpflege betrieb.

Daraus und auch aus Pollenfunden schließen die Wissenschaftler, dass die Region um das Altmühltal zum Höhepunkt der damaligen Eiszeit vorwiegend eine Graslandschaft mit wenigen Niedrigwäldern war. Immerhin war es eine eisfreie Region, die sich zwischen den Gletscherausläufern der Alpen und den skandinavischen Gletschern hier erstreckte.

Besucherandrang wenige Minuten nach Ausstellungsbeginn

„Wir wollen die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in unserer Ausstellung rund um den Mann aus Neuessing in familiengerechter Weise präsentieren und auch seine damalige Lebenswelt zeigen“, erläutert Morscheiser das Ausstellungskonzept.

Eines dieser Erkenntnisse ist auch, dass der Mann aus Neuessing und alle anderen modernen Menschen dieser Zeit eine sehr dunkle Hautfarbe hatten, wie sich aus der entschlüsselten Genetik ablesen lässt.

Dass diese über vier Jahre vorbereitete Ausstellung beim Publikum gut ankommt, zeigt alleine schon der tägliche Besucherandrang wenige Minuten nach Ausstellungsbeginn. Auffallend viele junge Familien bleiben staunend vor den lebensgroßen Mammut-Rekonstruktionen, der Höhlenbärin mit ihren Jungen, dem Riesenhirsch und vielen anderen lebensechten Exponaten aus der der Eiszeit stehen, in der sich unsere Vorfahren behaupten mussten.

Sowohl in Multimediapräsentationen als auch an im wahrsten Sinne des Wortes begreifbaren Stationen, wo Kinder über Felle streicheln oder eigene Felsmalereien entwickeln können, wird den Besuchern die Eiszeit fast authentisch nahegebracht.

Er war „ein echter Bayer“

„Die damaligen Menschen haben die High-Tech-Waffen und Werkzeuge ihrer Zeit genutzt. Experimente haben gezeigt, dass sie mit ihren Feuerstein-Waffen sehr wohl große Tiere erlegen konnten“, bestätigt Morscheiser.

Es war entsprechend neuer wissenschaftlicher Rückschlüsse die Aufgabe der Frauen, alle Teile der erlegten Tiere zu verwertet und beispielsweise mit dem Gehirn der erlegten Tiere das Leder zu gerben. „Der Mann aus Neuessing war ein echter Bayer, denn er trug eine Lederhose“, meint eine Gruppenführerin später scherzhaft. Übrigens: Im Vergleich zum Mann aus Neuessing, ist Ötzi, der 1991 am Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen aus dem Eis geschmolzen ist, richtiggehend ein Jungspund: gerade mal 5300 Jahre alt.

Infos zur Ausstellung

Konzept:Auf 1500 Quadratmetern sind Originalfunde, hochwertige Tierrekonstruktionen, Präparate, Repliken und Skelette zu sehen. Ein Highlight ist das einzigartige Eiszeit-Skelett des „Mannes von Neuessing“: Es wird erstmals zusammen mit spektakulären neuesten Forschungsergebnissen präsentiert.

Inhalt:Auge in Auge mit den „Großen“ der letzten Kaltzeit: tonnenschwere Mammuts, gefährliche Höhlenlöwen und Wollnashörner durchstreifen die europäische Landschaft. Das Leben der Menschen: kein Luxus, kein Konsumzwang, wenig Komfort. Die Besucher begleiten ihre Urahnen durch ein Eiszeit-Jahr. Veränderungen der Lebensumstände auf der Erde passieren nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Der Ausklang der „Eiszeit“-Ausstellung thematisiert Fragen, Fakten und Folgen des aktuellen Klimawandels.

Dauer:Bis 11. Dezember täglich im Lokschuppen in Rosenheim.

Internet:lokschuppen.de

URL: https://www.mittelbayerische.de/archiv/1/34000-jahre-nach-seinem-tod-wird-ein-essinger-zum-star-11835959
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