Exklusiv-Interview

Chef des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, widerspricht Baerbock: „Werden mit Russland zu reden haben“

14.07.2022 | Stand 14.07.2022, 5:00 Uhr
„Wir müssen diesem Kerl regelmäßig den Spiegel vorhalten, dass er sich auf einem verhängnisvollen Irrweg befindet“, sagt Michael Roth mit Blick auf Russlands Präsident Wladimir Putin. −Foto: von Jutrczenka, dpa

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD), hat Außenministerin Annalena Baerbock widersprochen, wonach man mit Russland derzeit nicht verhandeln könne.



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Roth sagte im Interview mit den Zeitungen der Mediengruppe Bayern (Passauer Neue Presse, Donaukurier, Mittelbayerische Zeitung): „Russland ist weiterhin ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, es bleibt Teil der G20, gehört zur OSZE. „Ob es uns gefällt oder nicht, wir werden mit Vertreterinnen und Vertretern Russlands zu reden haben.“

Außenministerin Baerbock hat Gesprächen mit Russland eine Absage erteilt. Was sagen Sie?

Michael Roth:Putins Russland ist auf absehbare Zeit kein verlässlicher Partner, sondern ein Gegner und Kriegstreiber. Aber Russland ist weiterhin ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, es bleibt Teil der G20, gehört zur OSZE. Ob es uns gefällt oder nicht, wir werden mit Vertreterinnen und Vertretern Russlands zu reden haben. Dabei geht es darum, den russischen Aggressoren auch immer wieder zu sagen, was zu sagen ist: Stoppt diesen Krieg, zieht eure Truppen zurück! Ich bin skeptisch, ob Telefonate zwischen Präsident Macron oder Kanzler Scholz Putin zum Einlenken bewegen. Aber wir müssen diesem Kerl regelmäßig den Spiegel vorhalten, dass er sich auf einem verhängnisvollen Irrweg befindet.

Müssen wir mit Russland reden, wenn Gaslieferungen über Nord Stream 1 ausbleiben sollten?

Roth:Ich bin mir noch nicht sicher, ob Putin das Tischtuch wirklich komplett zerschneidet. Er kann den Gashahn zwar auf- und zudrehen, aber die Gasförderung in Sibirien lässt sich nicht komplett stoppen. Putin würde sich damit auch selbst massiv schaden. Selbst wenn das Gas nach der Wartungspause wieder fließen solle, hat Putin aber bewiesen, dass Russland kein zuverlässiger Lieferant ist. Wenn ich mir die Äußerungen der Ministerpräsidenten von Sachsen und Bayern ansehe, die den Eindruck erwecken, das Engagement für die Ukraine widerspräche deutschen Interessen, drängt sich mir die bittere Erkenntnis auf: Putins Propaganda wirkt sogar bis in die Staatskanzleien der Länder.

In der SPD gibt es immer wieder Verweise auf die Ostpolitik Brandts. Wandel durch Annäherung ist die Botschaft. Wird Brandt gründlich missverstanden?

Roth:Ja. Aber auch von der gesellschaftlichen Mehrheit unseres Landes.

Inwiefern?

Roth:Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989 hat sich bei uns nichts daran geändert, einen einseitigen Fokus auf Russland zu haben. Die neuen souveränen Staaten wie Georgien, Ukraine oder Moldau wurden doch bei uns oftmals de facto immer noch als Teil Russlands behandelt. Man tat so, als existierte die UdSSR einfach weiter. Und daneben sind Leitprinzipien Brandts ignoriert worden. Zur Dialogfähigkeit gehört immer auch Wehrfähigkeit. Die Bundeswehr umfasste in den 70er-Jahren 500.000 Soldaten. Die Ostpolitik war eingebettet in ein transatlantisches Einverständnis. Zuletzt haben wir etwa mit dem Bau von Nord Stream 2 die Verbündeten in den USA und Europa massiv vor den Kopf gestoßen und uns weitgehend isoliert.

Die Ostpolitik fußte auf der Stationierung von Atomwaffen in Deutschland. Müssen wir über eine Modernisierung des Arsenals sprechen?

Roth:Es fällt mir schwer, das zu sagen: Aber meine Hoffnung auf eine Welt ohne nukleare Abschreckung hat sich vorerst zerschlagen. Vor dem Hintergrund der permanenten nuklearen Bedrohung durch Russland müssen wir zwangsläufig weiter auf atomare Abschreckung setzen. Für nukleare Abrüstung ist die Zeit aktuell nicht reif. Eine Tragödie!

Polen will Nato-Atomwaffen auf seinem Gebiet. Aber das verbietet die Nato-Grundakte, die Russland gebrochen hat.

Roth:Nationale Alleingänge verbieten sich. Die Nato ist aktuell stärker denn je. Wir haben wieder einen Teamgeist. Aber auch für dieses Ansinnen der Polen habe ich Verständnis. Wir sollten in EU und Nato eine vernünftige Lösung finden, die dem Sicherheitsbedürfnis aller Partner Rechnung trägt und nicht den Phobien Moskaus.

Die Nato will 300.000 Soldaten für die Ostflanke aufstellen. Doch die Soldaten sollen nicht stationiert werden, sondern nur rotieren. Die Polen sind darüber enttäuscht. Was bringen Soldaten, die nur theoretisch zur Verfügung stehen?

Roth:Die schnellen Eingreifkräfte sollen massiv von 40.000 auf 300.000 Soldaten erhöht werden. Ich habe Verständnis für die polnische Enttäuschung, dass die Soldaten nicht dauerhaft stationiert werden sollen. Aber das entspricht der Nato-Russland-Grundakte, die der Stationierung von Truppen in den neuen Nato-Mitgliedstaaten Grenzen setzt. Auch wenn Russland diesen Vertrag bereits gebrochen und in die Tonne gekloppt hat, sollten wir nicht vergessen: Er bekräftigt genau die Prinzipien, gegen die Putin verstößt - den Verzicht auf Gewalt, die Unverletzlichkeit von Grenzen, die Souveränität unabhängiger Staaten. Daran müssen wir Putin immer wieder erinnern.

Die Armee Polens soll auf 300-000 Mann verdoppelt werden. Auch hat sich das Land verpflichtet, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Deutschland ringt um zwei Prozent. Ist Polen ein Vorbild?

Roth:Es ist erfreulich, dass nicht nur Deutschland massiv in die eigene Wehrhaftigkeit investiert. Ich möchte in fünf Jahren eine hervorragend ausgestattete Bundeswehr haben, das hilft ja auch der Nato als Ganzes. Das Ziel von drei Prozent kannten wir in Deutschland auch schon einmal. Zu Zeiten von Willy Brandt hat die alte BRD mal drei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in den Verteidigungssektor investiert. Mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro und dem klaren Bekenntnis zum Zwei-Prozent-Ziel hat Deutschland ein starkes Signal gesendet.

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