Reisereportage
Das „versteckte“ Venedig erleben

30.11.2024 | Stand 30.11.2024, 5:00 Uhr |

Kein Gedränge entlang der Kanäle: Im Stadtteil Canareggio ist es noch zu finden, das „echte“ venezianische Leben.  − Fotos: Detzel 

Was für eine Ruhe! Eine gute Idee war es, den Frühstücks-Cappuccino mit raus in den Garten zu nehmen. In den Bäumen zwitschern die Vögel, durch das Tor der Wasserpforte fällt der Blick auf das in der Herbstsonne glitzernde Wasser der Lagune, gelegentlich rauscht ein Motorboot vorbei.

Der venezianische Kaufmann, der diesen Palazzo im 17. Jahrhundert bauen ließ, hatte ein Faible für die Botanik. Aus aller Welt brachte er exotische Pflanzen mit und schuf einen 2000 Quadratmeter großen botanischen Garten – mitten in Venedig, aber verborgen hinter hohen Mauern. Das Gebäude war über die Jahrhunderte mal Adelssitz, mal Kloster, mal Botschaft. Die Pflanzen im Garten wuchsen einfach weiter. Heute erfreuen sich die Gäste des NH Collection Grand Hotel Palazzo De Dogi an ihnen, tanken morgens vor ihrem Sightseeing-Tag Energie, genießen abends nach ihrer Rückkehr die Stille.

Ein paar Cicchetti zur kleinen Stärkung

Überraschend ruhig ist es auch vorne raus, auf der Kanal-Seite. Kein Gedränge, keine Gondeln, keine Souvenirläden. Stattdessen: Gemüsehändler und Geschäfte des täglichen Bedarfs, kleine Bars direkt am Wasser. Im Stadtteil Canareggio wohnen mehr Einheimische als Urlauber. Der touristische Trubel der Lagunenstadt ist nur etwa drei Brücken entfernt, doch davon ist nichts zu spüren. Die Welt scheint in Ordnung und der Spritz kostet noch fünf Euro.

Apropos Spritz: Der soll hier erfunden worden sein, in einem der vielen Bàcari, der kleinen, einfachen Lokale. Hier gibt es für den schnellen Hunger Cicchetti, typisch venezianische Häppchen: üppig belegte Brotscheiben, frittiertes Gemüse oder gefüllte Reisbällchen. Platz gibt es wenig. Ein Bàcaro ist nicht zu Verweilen, hier stärkt man sich und geht wieder.

Doch jetzt will die Stadt erkundet werden. „Venedig ist mehr als nur der Markusplatz“, hatte der Hotel-Manager morgens mit auf den Weg gegeben und geraten: „Die Schönheit der Stadt liegt darin, dass man sie entdecken muss.“ Die Entdeckungstour beginnt in Canareggio, dem nordwestlichsten der sechs Stadtteile Venedigs. Vieles findet man beim Spaziergang so nebenbei. Schöne Fassaden, zauberhafte Plätze, prächtige Kirchen und Brücken – Fotomotive über Fotomotive.

Zwischen den eingesessenen Handwerkern haben sich Kunsthandwerker neu angesiedelt. Michela Botolozzi etwa. „Relight Venice“, heißt ihr Geschäft. Es gehe darum, das Licht – vielleicht auch den alten Glanz – Venedigs zurückzubringen, erklärt die 38-Jährige. Ihre handgefertigten Kerzen und Schmuckstücke aus Recycling- und Naturmaterial greifen die Architektur der Stadt auf.

„Consume it or keep it?“ – aufbrauchen oder aufbewahren? – fragt Botolozzi und übergibt einen Lutscher in Form eines Ornaments aus der Fassade des Dogenpalastes. Die Künstlerin hat nichts gegen Touristen, aber sie sollen sich bewusst sein, dass die Stadt kein Amüsierpark ist, kein „Venice-Land“, sondern Lebensraum für Menschen. Auch wenn es immer weniger werden. Die Zahl der Venezianer ist unter die 50 000er-Marke gefallen. Die 38-Jährige ist nach einigen Jahren in aller Welt in die Heimat zurückgekehrt und sucht das Gespräch mit den Menschen – Urlaubern wie Venezianern, Käufern wie Neugierigen.

Das Grab des Malers Tintoretto in der Kirche Madonna dell Orto und sein Geburtshaus eine Wasserstraße weiter findet schnell, wer einen Reiseführer oder ein Handy hat. Für die verborgenen Schätze aber, für die braucht es jemanden wie Matteo. Einen Stadtführer, dem Geschichten lieber sind als historische Daten. Lustige wie die über die Familie Labio, die einst in dem prächtigen Palazzo neben der Ponte delle Guglie lebte. Zuzügler aus Florenz. Solche, die die Einheimischen beeindrucken wollten. Um ihren Reichtum zur Schau zu stellen, warfen sie teuren Tand aus den Fenstern in den Kanal. Unter Wasser hatten sie Netze gespannt, und im Schutze der Dunkelheit wurden die teuren Dinge wieder ins Haus geholt. Der Schwindel flog auf, und noch heute gibt es im Venezianischen das Wort „Labio“. Es heißt so viel wie Lügner.

Auch grausige Geschichten weiß Matteo. Auf dem Campo San Zandegolà weist er hin auf ein kleines Relief an der Fassade einer rosafarbenen Kirche. Es zeigt einen abgetrennten Kopf. Auf dem Campo, so wird erzählt, gab es früher ein Restaurant, das berühmt war für seine Tomatensuppe mit Fleischstückchen. So lange, bis erst eine Frau einen Finger in der Suppe und in der Folge die Polizei mehrere Leichenteile in der Speisekammer fand. Das Schicksal des Kochs? Nun, man schaue sich das Relief an.

Über die Brücke am Fondamente dei Ormesini geht es ins jüdische Viertel. Hier, so erzählt Matteo, waren früher die Glasbläsereien und Metallgießereien. Nach dem großen Brand von 1291 wurden sie aus der Stadt verbannt – die einen nach Murano, die anderen ins Arsenale. 1516 wies die Republik den Juden dieses „Geto“ – venezianisch für „Metallguss“ – als Wohn- und Arbeitsgebiet zu. Das Wort bekam eine neue Bedeutung, es entstand das erste „Ghetto“ Europas. Bis zu 5000 Juden lebten hier mal, heute sind noch 15 Familien übrig. Auffällig in dieser Gegend sind die für Venedig untypischen, hohen Gebäude. Den Juden war es verboten, neue Häuser zu bauen. Ihnen blieb nichts übrig, als Stockwerk um Stockwerk nach oben zu gehen, um Wohnraum zu schaffen.

Von der „Busenbrücke“ fiel so mancher ins Wasser

Über die Scalzi-Brücke überqueren wir den Canal Grande, wechseln nach Santa Croce, immer noch abseits ausgetretener Wege und durch die Ca Zusto, eine Gasse so schmal, dass besser kein Passant entgegen kommt. Viele verirren sich ohnehin nicht in dieses Viertel, das berühmt ist für seine gemütlichen Lokale.

Schnell ist die „gefährlichste Brücke Venedigs“ erreicht, wie Matteo mit einem Schmunzeln warnt. Heute läuft man längst nicht mehr Gefahr, beim Überqueren der unscheinbaren Ponte delle Tette in den Kanal zu fallen. Früher mal markierte die Brücke den Eingang ins Rotlichtviertel. In den Fenstern rundum stellten sich die Damen offenherzig zur Schau, und so mancher Mann schaute – na, jedenfalls nicht auf den Weg – und landete im Wasser. „Busenbrücke“, der Spitzname hält sich seit 500 Jahren. Die Bordelle sind aus dem Stadtbild San Polos – dem ältesten Viertel Venedigs verschwunden. Handwerksbetriebe prägen das Bild, besonders schön in der Gasse der Schuhmacher.

Eine letzte Schauergeschichte hat Matteo auf dem Campo San Giacomo di Rialto parat, einst wichtiger Handelsplatz, aber auch Schauplatz öffentlicher Folter. Straftäter, die zum öffentlichen Auspeitschen verurteilt wurden, mussten zum Fuß den einen Kilometer vom Marktplatz hierher bewältigen – nackt und von der Masse begafft und ausgepeitscht – um vor Ort eine Marmorskulptur zu küssen. Diebe und Mörder bekamen hier auch eine Chance, der Hinrichtung zu entgehen. Sie mussten „nur“ ein Kreuzrelief an einer der umliegenden Fassaden mit Öl begießen, anzünden und ihr Gesicht dagegen drücken – für immer gebrandmarkt, aber immerhin am Leben.

Teuer, aber kultig: Ein Bellini in „Harry’s Bar“

Mit leichtem Schauer im Nacken entlässt Matteo seine Gruppe ins Gewimmel. Nur ein paar Meter sind es zur Rialtobrücke, dann wenige Gehminuten bis zu „Harry’s Bar“, westlich vom Markusplatz. Ein Geheimtipp ist die Bar aus den 1930er Jahren nicht, und die Preise sind absurd, aber sie hat Kultstatus. Außen eine unscheinbare Türe, innen eine Zeitreise knapp 100 Jahre zurück: Blank polierte Holztische und Kellner, die in weißem Hemd mit schwarzer Fliege den Cocktailshaker schütteln. Der Bellini kostet so viel wie anderswo eine Mahlzeit, aber schließlich wurde der Drink aus Prosecco und Pfirsichmark auch hier erfunden. Ernest Hemingway soll ihn immer an dem Tisch hinten in der Ecke geschlürft haben.

Mit über 90 Jahren noch immer fast täglicher Gast ist der Besitzer der Bar, Arrigo Cipriani. Sohn jenes Barkeepers, der einst seinem kranken amerikanischen Freund Harry Pickering das Geld für den Rückflug in die USA gab. Einige Jahre später kehrte Harry zurück – genesen und reich genug, seine Schulden mit gutem Zins zu begleichen. Endlich hatte Giuseppe Cipriani das Geld für eine eigene Bar. 1931 wurde sie eröffnet, benannt nach jenem Harry. Bald kam der internationale Jetset. 93 Jahre später hat sich nichts verändert, aber der Laden brummt. Vielleicht gerade deswegen.

Lieber zurück nach Canareggio. Dort gibt es zum Preis von einem Bellini in „Harry’s Bar“ vier Gläser Wein in einem der Bàcaro. Rein rechnerisch freilich, denn nach dem Fußmarsch zurück siegt die Müdigkeit. Außerdem: Wenn sich schon mal die Gelegenheit bietet, in einem prächtigen Palazzo zu nächtigen, dann zählt jede Minute Schlaf. Unter Jahrhunderte alten Deckenbalken, umgeben von Muranoglas, Marmor, Brokat, antiken Möbeln und goldgerahmten Bildern ruht es sich ganz außergewöhnlich. Kein Geräusch trübt die Ruhe, nicht mal ein Plätschern vom Kanal vor dem Fenster.

Der nächste Morgen beginnt äußerst erholt und bereit für die nächste Entdeckungstour. Nach Murano vielleicht, zu den Glasbläsern. Man wird sehen – aber erst nach dem Cappuccino im versteckten Garten.


Redakteurin Katrin Detzel reiste auf Einladung der NH Collection Hotels



Venedig ist Hauptstadt der Region Venetien; sie liegt im Nordosten Italiens an der gleichnamigen Lagune.

ANREISE
Aus Bayern ist man in ein paar Stunden mit dem Auto in Venedig. Oder in einer Stunde Flugzeit ab München. Mit dem Wassertaxi geht es zum Hotel.

ÜBERNACHTEN
NH Collection Grand Hotel Palazzo Dei Dogi, in einem alten Palast mit verstecktem Garten, nh-collection.com

ESSEN• Officina Ormesini: Cicchetti, typisch venezianische Häppchen, oficinaormesini.com.

• Osteria L’Orto di Mori: Klein, rustikal mit kreativen venezianische und mediterranen Speisen, ostriaortodeimori.com.

UNTERNEHMEN

•  Mit einem Einheimischen per Boot oder zu Fuß das „versteckte Venedig“ entdecken, Infos unter shomevenice.com

• Tolle Aussicht: Dachterrasse des Luxus-Kaufhauses Fondaco dei Tedeschi an der Rialtobrücke, Online-Reservierung nötig

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