Kolumne
Das Kreuz mit den Musik-Playlisten

Heute geben uns Algorhythmen vor, welche neuen Songs wir entdecken. Das geht zulasten neuer Sounds, findet T. G. Copperfield.

15.08.2021 | Stand 16.09.2023, 1:21 Uhr
Tilo George Copperfield
Spotify und Co. verändern mit ihren Playlisten die Art, wie wir Musik entdecken. −Foto: Fabian Sommer/picture alliance/dpa

Seit dieser unsägliche Coronavirus und seine mutierenden Freund*innen zugeschlagen hat, habe ich das Hören von Podcasts für mich entdeckt. Kann man sich nebenbei gut anhören und man lernt immer wieder mal was Neues. Neulich bin ich dabei über ein Interview mit Bill Kaulitz gestolpert. Berühmt und berüchtigt als Sänger der deutschen Popband „Tokio Hotel“ hat er Anfang der 2000er Jahre extrem polarisiert. Die einen haben ihn geliebt, die anderen haben ihn und die Band gehasst. Dazwischen gab es scheinbar nichts und eine interessante Persönlichkeit ist und war Herr Kaulitz auf jeden Fall, das muss man zugeben.

Im Podcast wurde er darauf angesprochen, was er an der heutigen Musikszene vor allem in Deutschland nicht so gut findet. Und da meinte er, es wäre doch schon zu beobachten, dass es eine gewisse Austauschbarkeit gibt und sich die Konsumenten viel weniger dafür interessieren, wer die Musik macht. Als Beispiel hat er da die sogenannten deutschen Poppoeten angeführt. Ein Begriff der in den letzten (ich denke 5 Jahren) entstanden ist. Deutschsprachige Popmusik mit sehr ähnlichen Texten, Sounds und sehr vergleichbaren Elementen.

Deutsche Popmusik wirkt austauschbar

Bei der populären deutschen Popmusik ist es nun so: Man kennt eher den Song und kann nicht wirklich sagen, wer nun genau dahintersteckt. Es scheint alles ein bisschen austauschbarer und vielleicht sogar belangloser zu sein. Jan Böhmermann hat das Ganze ja mal sehr lustig parodiert, indem er Affen beliebige Aussagen zusammenstellen ließ und er hat daraus ein verblüffend zeitgemäßes Lied mit dem Titel „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“ komponiert.

Playlisten statt selber stöbern

Das Statement von Bill Kaulitz fand ich ganz interessant, weil es genau in die Thematik reinspielt, die ich auch schon länger beobachte. Musikkonsumenten verlassen sich mittlerweile wesentlich mehr auf die Playlists der großen Streamingplattformen und machen sich nicht selbst auf die mühsame Suche nach neuer Musik. Da gibt es dann Songs für „Workout“ oder für „Entspannung nach der Arbeit“ oder auch „Chilliger Sonntagmorgen“ sowie „Heavy Metal zum Joggen“. Alles gefüllt mit stimmungsmäßig passender Musik als unendlich dahinmäandernder, nie endender Strom.

Die Berieselung ist perfekt. Unter Umständen hört man einen Song vier bis fünfmal, ohne die geringste Ahnung zu haben, wer das Lied überhaupt geschrieben hat oder welche Band dahintersteckt. Früher kamen die Mixtapes von der besten Freundin, heute macht das der Computer für uns. Da gibt es dann schwindelerregend hohe Streamingzahlen für Musiker*innen, die kein Mensch kennt, die aber durch irgendeinen Zufall in eine der beliebten Playlists gerutscht sind. Na klar, Glück gehört dazu, aber Künstler*innen profitieren nicht in der Weise davon, dass ihre Konzertsäle plötzlich voller sind. Es ist ja nicht die Darbietung, die attraktiv ist, sondern die Stimmung, die gerade der Song transportiert.

Bleibt Individualität auf der Strecke?

Eine interessante Entwicklung also und ich möchte das gar nicht irgendwie werten. Es zeigt aber, dass dadurch Bands, wie zum Beispiel „Led Zeppelin“, „AC/DC“ oder „The Rolling Stones“ nicht mehr denkbar sind. Deren große Attraktivität lag anfangs eher darin, aus der Masse herauszustechen, und sie wurden dadurch berühmt, weil sie einen „eigenen Sound“ hatten. Sie haben etwas Neues geschaffen, dass es vorher nicht gab.

Indem aber nun die Algorithmen der Streamingdienste gnadenlos nach „Ähnlichkeiten“ aussortieren und Unerwartetes oder vielleicht sogar komplett Neues eher abschreckend wirkt, weil es sich nicht in eine Playlist einordnen lässt, könnte man nun meinen, dass die Individualität dadurch massiv auf der Strecke bleibt. Damit wäre also die Vision, der tiefere Sinn hinter einem Song und die künstlerische Aussage nur noch auf Funktionalität in irgendeiner Liste von gleichklingenden Geräuschen reduziert.

Wenn nun alle Produzent*innen von Musik nur noch ihren Erfolg daran orientieren, wie hoch irgendwelche Streamingzahlen sind, dann könnte dies ein trügerischer Messwert sein. Sagt er doch unter Umständen nichts über das Interesse der Konsument*innen an den Künstler*innen oder deren Individualität selbst aus. Diese Produzent*innen werden aber nach dieser Philosophie (angespornt durch die hohen Streamingzahlen) immer noch mehr von dieser Musik produzieren. Sie wird ja immerhin stark nachgefragt und ist scheinbar erfolgreich. Neue Sachen, neue Sounds lassen sich nur dann durchsetzen, wenn sie irgendwie wie „alte Bekannte“ klingen und die Hörerin nicht aus dem Tagtraum reißen. Das gleiche Phänomen kann man übrigens zu einem großen Teil bei Formatradiostationen beobachten.

Aber wie Fury in the Slaughterhouse schon gesungen haben: „Every Generation got its own disease“. Und derzeit scheint dieser Trend nach Konformität und Sicherheit der bekannten Strukturen ein Vorherrschender zu sein. Aus musikalischer Sicht ist das nichts für mich, aber ich höre mich ja auch keine Playlists an und bin wahrscheinlich selber befangen als Musiker und Songschreiber. Für alle anderen da draußen ein heißer Tipp: Es gibt wirklich außergewöhnlich viel interessante, tolle neue Musik da draußen, die uns von den gängigen Playlists vorenthalten wird. Es kostet zwar ein bisschen Aufwand, sich damit zu beschäftigen und diese Schätze zu heben, aber man braucht sich doch nicht alles vorschreiben lassen im Leben, oder?