Serie „Alles, was Recht ist“
Ein Rechtsanwalt klärt auf: Der Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen

05.11.2022 | Stand 15.09.2023, 3:06 Uhr
Benedikt Kuchenreuter
Beispiel für einen Anscheinsbeweis bei einem Verkehrsunfall: Wer hinten auffährt, ist schuld. −Foto: Stefan Sauer/dpa

Bei dem Anscheinsbeweis (Prima-facie-Beweis) handelt es sich um eine mittelbare Beweisführung. Der Anscheinsbeweis erlaubt es, aufgrund von Erfahrungssätzen Schlüsse von bewiesenen auf zu beweisende Tatsachen zu ziehen.

„Der Anscheinsbeweis ist bei typischen Geschehensabläufen anwendbar zum Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs und des Verschuldens. Er erlaubt es, in solchen Fällen aufgrund einer bestimmten Wirkung eine bestimmte Ursache und umgekehrt, sowie das Verschulden beteiligter Personen als erwiesen anzusehen.

Rechtslage bei Auffahrunfällen

Er setzt jedoch voraus, dass ein Tatbestand feststeht, bei dem der behauptete ursächliche Zusammenhang oder das behauptete Verschulden typischerweise gegeben ist, beruht also auf der Auswertung von Wahrscheinlichkeiten, die aufgrund der Lebenserfahrung anzunehmen sind. Es muss sich also um ein Geschehen gehandelt haben, bei dem die Regeln des Lebens und die Erfahrung des Üblichen und Gewöhnlichen dem Richter die Überzeugung (§ 286 ZPO) vermitteln, dass auch in dem von ihm zu entscheidenden Fall der Ursachenverlauf so gewesen ist wie in den vergleichbaren Fällen“ (BGH NJW RR 1988,789,790).

Der Beitrag beschäftigt sich im Folgenden mit dem Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen:

Bei einem Auffahrunfall spricht der Anscheinsbeweis im Regelfall gegen denjenigen, der auf ein vor ihm fahrendes Fahrzeug auffährt, weil der Auffahrende in diesen Fällen entweder zu schnell, mit unzureichendem Sicherheitsabstand oder generell unaufmerksam ist (BGH 24.06.1969, Az.: VI ZR 40/68).

Gegen den Fahrer, der einen Spurwechsel durchführt, streitet der Beweis des ersten Anscheins, da dieser beim Spurwechsel erhöhte Sorgfaltspflichten zu erfüllen hat und eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vermeiden muss.

Gegen den Fahrer, der sich in Rückwärtsfahrt befindet und mit einem anderen Fahrzeug kollidiert, spricht der Beweis des ersten Anscheins für den Geschädigten, da der rückwärtsfahrende Fahrzeugführer sich so verhalten muss, dass er sein Fahrzeug im Notfall sofort anhalten kann.

Erschütterung des Anscheinsbeweises

Ereignet sich eine Kollision, nachdem ein Fahrzeug aus einer untergeordneten Straße in eine bevorrechtigte Straße eingebogen ist, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass eine Vorfahrtsverletzung des einbiegenden Fahrzeugs vorlag.

Diese oben aufgeführten Anscheinsbeweise können jedoch erschüttert werden. Derjenige , zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis eingreift, kann den Anscheinsbeweis erschüttern, wenn Umstände dargelegt und bewiesen werden, die geeignet sind, den Beweis des ersten Anscheins zu Fall zu bringen. Dies ist bereits dann der Fall, wenn die ernsthafte Möglichkeit eines von der Lebenserfahrung abweichenden Geschehensablaufs beweisen wird.

Letztlich stellt der Anscheinsbeweis eine Beweiserleichterung für die beweispflichtige Partei dar. Wenn jedoch der Gegner den Anscheinsbeweis erschüttern kann, lebt die Beweispflicht wieder auf, und der erforderliche Vollbeweis ist zu erbringen.