BRK in Furth im Wald
Kinästhetik: Pflege zum Gewinn für die Pfleger machen

05.12.2022 | Stand 15.09.2023, 2:39 Uhr
Ihre Erfahrung in der Bewegungslehre Kinaesthetics war für Heimleiter Stefan Hupf (2. v.r.) und Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner (M.) das Ergebnisreis jahrelanger Bemühungen. Im BRK-Pflegezentrum referierte „Kinaesthetics-Papst“ Stefan Knobel (r.) unter anderem vor BRK-Kreisvorsitzenden Theo Zellner (2. v.l.) und Kreisgeschäftsführer Manfred Aschenbrenner (l.). −Foto: Betthausen/BRK

Für Heimleiter Stefan Hupf sind die Erfolge messbar: Im Vergleich zur Branche verzeichnet er im BRK-Pflegezentrum weniger Krankheitstage, weniger Fluktuation und zufriedenere Kollegen. „Wir haben seit Jahren kein Personalproblem“, sagt er.

Ein wesentlicher Grund ist in seinen Augen das Projekt Kinästhetics, das in seinem Haus seit 2011 umgesetzt wird – unter Federführung von Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner. „Das Konzept macht sich bezahlt“, sagt Hupf am Rande des Fachtags Kinästhetics. Kinästhetik definiert sich als gemeinsames Lernen und Entwickeln von Bewegungsabläufen, die auf die individuellen Fähigkeiten der Pflegepersonen abgestimmt sind. Vorteil: Die Mobilisation wird sowohl für die Pflegekraft als auch für den Pflegebedürftigen leichter und angenehmer.

60 Teilnehmer kamen nach Furth, um Input-Vorträge zu hören und an Workshops teilzunehmen. Darüber hinaus schließen 20 Teilnehmer ihre Trainer-Ausbildung ab.

Die BRK-Einrichtung hat sich mit der Ausrichtung endgültig als Kinästhetics-Kompetenzzentrum etabliert – ein lange gehegter Traum von Hupf und Nachreiner. „Heute schließt sich für mich ein Kreis“, sagt der Heimleiter und schiebt zufrieden nach: „Frau Nachreiner, ich glaube, wir haben es geschafft“. Ohne ihren Engagement und Idealismus, wäre das Haus nicht da, wo es ist, betont auch Theo Zellner. Der BRK-Kreisvorsitzende macht im Projekt Kinaesthetics eines der großen Alleinstellungsmerkmale des Pflegezentrums in Furth im Wald aus. Jeder Mitarbeiter werde hier so weit gebracht, dass er das Thema verinnerliche. „Da gehört Begeisterung dazu, da muss man Menschen mitnehmen können – und das ist in Furth verdammt gut gelungen“.

Elisabeth Nachreiner, Stefan Hupf und ihrem Team zollt er „größten Respekt“ für die jahrelange Arbeit. „Sie haben unser Haus bundesweit bekannt gemacht.“

Wofür Kinästhetik steht

In seinem Grußwort zeigt Zellner Außenstehenden und all denen, die erstmals mit dem Thema zu tun haben, die Zielrichtung von Kinaesthetics auf. Mit einem kurzen Exkurs ins Altgriechische erläutert er dazu den Begriff Kinästhetik. kineō bedeute „bewegen“, aísthēsis „Wahrnehmung“ beziehungsweise „Empfindung“ – und damit, „Bewegung zu fühlen und zu verinnerlichen“.

Ein Patient oder Heimbewohner, verdeutlicht der langjährige BRK-Präsident, der die Bewegung mitfühle, erleichtere nicht nur dem Pflegenden die Arbeit, sondern helfe auch sich selbst. „Damit wird Bewegung plötzlich zur Interaktion und zur Kommunikation. Sich ohne Worte näherzukommen, das ist unglaublich“, sagt Zellner, der in Kinästhetics einen zusätzlichen Beitrag zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement sieht.

Seine Rede nutzt der ehemalige Landrat für einen leidenschaftlichen Appell, am Stellenwert der Pflege und am Ansehen der Berufsgruppen im Land zu arbeiten. „Wenn wir das Ranking der Berufe nicht umdrehen, dann stimmt in unserer Gesellschaft etwas nicht mehr.“ Der „soziale Teil und die soziale Gerechtigkeit“, bekräftigt er, müssten „ganz nach oben geschoben werden“ – alles andere müsse zuarbeiten. Im ersten Input-Vortrag des Tages – weitere Referenten sind Sabine Siemann von Kinästhetics Deutschland und Elisabeth Nachreiner – veranschaulicht Stefan Knobel eindrucksvoll, wie der Pflegeberuf von der Kinästhetik profitieren kann. Der Schweizer ist gelernter Krankenpfleger und befasst sich seit fast 40 Jahren mit Kinästhetics. Er gilt als „Papst“ der Szene, entwickelt europaweit Konzepte rund um das Thema weiter und leitete die jüngste Trainer-Ausbildung in Furth im Wald, „einem der Vorzeige-Heime in Deutschland“, wie er sagt.

Als wissenschaftliches Fachgebiet, erläutert Knobel, beschäftige sich Kinästhetics im Wesentlichen mit der Individual-Entwicklung. Die Einteilung in „Alt“ und „Jung“ hält er für lange überholt. Zentral für menschliche Wesen sei die Entwicklung – etwas, das auch einem oder einer 100-Jährigen noch möglich sei. „Jeder Mensch entwickelt sich aufgrund seiner Erfahrungen und seines Umfeldes in die Richtung, in die er kann“, sagt der Schweizer.

Bei seinem Vortrag tritt er entschieden dafür ein, in der Pflegebranche „mit den Standards aufzuräumen“ und wie die Entwicklung des Menschen auch dessen Pflege individuell zu betrachten. „Die Menschen kommen nicht ins Pflegeheim oder brauchen häusliche Unterstützung, weil sie krank sind, sondern weil die Krankheit dazu führt, dass sie alltägliche Aktivitäten nicht mehr schaffen“. Pflege sei kein therapeutischer, sondern ein helfender Beruf, der kompetente Lebensführung zum Ziel habe. „Es reicht eben nicht“, erklärt Knobel, „wenn ich jemanden hinstelle oder ihn aufstellen muss.“ Wesentlich sei, dass die Person erfahren könne, wie sie selber aufstehe. So könne sie mehr Möglichkeiten entwickeln. „ Selbstständigkeit ist das Ziel – und Selbstständigkeit führt immer zu mehr Lebensqualität“. Bei all dem trifft der Referent eine Reihe an mutigen Aussagen, mit denen er ausschert aus gängigen Schemata. „Heben schadet nicht nur dem Personal, heben ist ein Pflegefehler und schadet auch dem Bewohner“, meint er beispielsweise. Ein Patient müsse nicht gehoben werden, „wenn man die Individualentwicklung sieht und versteht, wie ein Mensch funktioniert“. Seine Botschaft lautet in diesem Zusammenhang, Geld nicht in Roboter oder andere technische Hilfsmittel zu stecken, sondern in den „Kern der Pflege“ – und dieser Kern, an dem Kinästhetics ansetze, sei es eben, Menschen bei ihren alltäglichen Aktivitäten zu unterstützen.

Investition, die sich lohnt

„Wenn man da investiert, löst man viele Probleme“, sagt der Kinäesthetics-Experte und erkennt darin eine große Chance, zu verhindern, dass Fachkräfte der Pflege den Rücken kehren – mit ruinierter Gesundheit und frustriert darüber, dass sie Patienten oder Bewohnern trotz ihrer hohen Ansprüche im Arbeitsalltag „oft gar nicht wirklich helfen“: „Es ist elementar, dass wir uns in Zukunft mit dem Kern der Pflege befassen anstatt mit Nebensächlichkeiten“, betont der Schweizer.

Pflege müsse dazu führen, dass es nicht nur dem Patienten bessergehe, sondern auch den Pflegern selbst. „Wenn man das verstanden hat“, meint Knobel, „wird Pflege zu einem äußerst attraktiven, interessanten Beruf.“