Pandemie
Schlimme Corona-Tage im Further Heim

Zwei Mitarbeiter berichten über den tragischen Virusausbruch im Pflegezentrum des Bayerischen Roten Kreuzes in Furth im Wald.

11.03.2021 | Stand 16.09.2023, 4:14 Uhr
Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner und Heimleiter Stefan Hupf haben mit ihren Kollegen fordernde Wochen hinter sich gebracht. Es wird noch eine Weile dauern, bis diese Zeit ganz aufgearbeitet ist. −Foto: Frank Betthausen

Stefan Hupf hat viel erlebt als Heimleiter. Aber Corona? Das war anders als alles zuvor. „Du gehst raus aus deiner normalen Welt – und steigst ein in eine andere“, sagt er. Er hält kurz inne und blickt hinüber zu seiner Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner. Sie nickt. Hupf nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse, schüttelt ungläubig den Kopf und meint: „Wie ein Tunnel ist das. Ja, du gehst in einen Tunnel – und der scheint nicht zu enden.“

Am 2. Dezember 2020, einem Mittwoch, schlich sich das Virus – den monatelangen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz – in das BRK-Pflegezentrum von Furth im Wald in der Dr.-Adam-Voll-Straße. „Es ist mit Sicherheit von draußen reingetragen worden“, meint Hupf, der das Haus seit 2009 führt. Was folgte, war eine Zeit, über die Elisabeth Nachreiner rückblickend sagt: „Ich war in einer Daueranspannung und nicht mehr in der Lage, meine Spannung zu regulieren. Ich habe Tage gebraucht, um mich wieder wahrzunehmen.“

Die Angst, sich anzustecken

Seit 35 Jahren arbeitet sie in der Pflege, seit zehn Jahren befasst sie sich mit Kinästhetik, der Lehre von der Bewegungsempfindung. Aber etwas wie das, etwas wie dieses Infektionsgeschehen, habe sie noch nie erlebt. Die Angst, sich selbst anzustecken, miterleben zu müssen, wie sich der Erreger unaufhaltsam ausbreitete, ließ sie starr werden. Sie fand keine Balance mehr – „nichts, woran man festhalten konnte“. Eigentlich unglaublich: Wirklich zurück zu sich, so beschreibt es die 57-Jährige, fand sie erst, als sie sich am 24. Dezember infizierte. Erst danach konnte sie „die Perspektive wechseln und sich mit dem Krankheitsbild auseinandersetzen“.

Es waren menschliche Tragödien, die Nachreiner, Hupf und ihren Kollegen alles abverlangten und ihnen nahegingen. Dazu die Ausfälle im Team, die Verzweiflung, das Gefühl der Hilflosigkeit und die Erschöpfung! Bewohner, die glaubten, sie hätten Astronauten vor sich – es waren Pfleger mit Ganzkörperschutzanzügen und Brillen. „Wir hatten so viel Mut. Aber dann zu sehen, wie es den Menschen, die am Anfang keine Symptome hatten, immer schlechter ging, das war das Schlimmste“, sagt Hupf, der einem älteren Herrn in den letzten Lebensstunden die Hand hielt. „Lassen Sie mich bitte hier! Ich möchte hier sterben“, sagte der Mann immer wieder. „Wir hatten alle Tränen und Wasser unter der Schutzbrille“, erinnert sich Hupf.

Was die 57-Jährige und Stefan Hupf heute spüren, das sind der Stolz, es gemeinsam mit der Mannschaft geschafft zu haben, Aufbruchsstimmung und das Gefühl, dass in der schwer gebeutelten Einrichtung, die seit Ende Dezember als coronafrei gilt, neues Leben einkehrt. Natürlich: Viele ihrer Mitarbeiter müssen sich erst wieder finden, vieles verarbeiten und in Gesprächen aufarbeiten. Aber: Der Alltag kehrt zurück in der Dr.-Adam-Voll-Straße, es geht weiter – und die Freude an einem Beruf ist wieder da, der in den Augen von Hupf durch die Pandemie endlich den Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung bekommen hat, den er verdient.

Seine Hochachtung vor dem, was die Beschäftigten seit dem 2. Dezember vollbrachten, vor dem, was Pflege in Corona-Zeiten leistet, ist riesig. „Das sind die Besten der Welt – für mich sind das Helden! Kein anderer hätte das so gemacht“, wird der 45-Jährige, ein gelernter Bürokaufmann, fast feierlich, als er über die Belegschaft berichtet; über die zwiespältigen Gefühle, mit denen die Mitarbeiter und er zum Dienst kamen. „Du möchtest helfen, aber du weißt: Wenn du da reingehst, setzt du dich einem Restrisiko aus. Du willst es ja nicht mit nach Hause nehmen“, beschreibt es der Grafenwiesener.

Pflege – das sei Berufung, sagt er. Und absolut sinnstiftend. In der Pandemie – das Zeitfenster ist nicht allzu groß, dessen ist er sich bewusst – liegt für ihn die Chance, den Beruf zu stärken und den Beschäftigten bewusst zu machen, wie bedeutsam ihre Arbeit für die Gesellschaft ist. „Die ganze Welt merkt im Moment, wie wichtig Pflege ist“, meint der Einrichtungsleiter, der es bei all dem immer wieder bedauert, wie wenig die Beschäftigten selbst darauf vertrauen wollen, welchen Stellenwert ihre Tätigkeit hat. „Die Pflege redet sich manchmal selber schlecht, und der Beruf ist viel zu negativ behaftet. Daran sollten wir arbeiten“, meint der BRK-Mitarbeiter. Oft mache ihn das regelrecht betroffen, wenn er spüre, dass einige Kollegen ihre Leistungen gar nicht als „so toll“ empfänden. „Weil sie so gute Arbeit leisten!“, betont Hupf.

Für Elisabeth Nachreiner, gelernte Krankenschwester und seit 2008 beim Bayerischen Roten Kreuz, liegt viel in der Bescheidenheit ihrer Kollegen und darin begründet, dass ihr Berufsstand einfach macht, ohne lang zu fragen oder es an die große Glocke zu hängen. „Eine Pflegerin oder ein Pfleger, der das mit Leib und Seele lebt, für den ist das selbstverständlich, was er tut“, sagt sie. Und Stefan Hupf bestätigt, dass das wohl der Kern sei und den Beruf ausmache – allem etwas Positives abzugewinnen, es aber nie in der Öffentlichkeit herauszuschreien.

Offener Umgang mit Familien

Selbstverständlich war für den Heimleiter und die Pflegedienstleiterin der mitfühlende, offene Umgang mit den Familien während des Ausbruchsgeschehens. Keine Geheimniskrämerei, so lautete ihre Devise. „Wir haben versucht, jeden Angehörigen der 47 positiv getesteten Bewohner persönlich zu informieren und zum Teil auch auf das Schlimmste vorzubereiten. Und so lang das Gespräch gedauert hat – so lang hat es gedauert“, erzählt Hupf. Überhaupt war es ihm während der gesamten Pandemiezeit wichtig, den Bewohnern und ihren Angehörigen – soweit es die allgemeinen Regeln erlaubten – „die größtmögliche Freiheit zu garantieren“.

Kinästhetik: Schwerpunkt:
Die Wissenschaft Kinästhetik, ein Steckenpferd der Further BRK-Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner, erforscht die individuelle Bewegungskompetenz als eine der wichtigsten Grundlagen des menschlichen Verhaltens und der menschlichen Entwicklung.Im Zentrum stehen dabei die Qualität der Bewegung in den alltäglichen Aktivitäten und die Kompetenz, „diese situativ und gesundheitsfördernd an die alltäglichen Herausforderungen anzupassen“, wie Nachreiner erläutert.

Die Strategie und der persönliche Umgang scheinen aufgegangen zu sein. Trotz der Todesfälle im Heim stießen der 45-Jährige und die Pflegedienstleiterin nach eigenen Angaben auf viel Verständnis bei den betroffenen Familien. „Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, sagt Elisabeth Nachreiner. „Wenn uns Fehler passiert sind, müssen wir dazu stehen.“

Diesmal nickt Stefan Hupf zustimmend. Als alles überstanden war, wollte er mit dem Ende der behördlichen Auflagen bald bewusst ein Zeichen für den Aufbruch setzen. Auch nach außen. Der 45-Jährige reagierte auf die Vielzahl von Anfragen, die seine Einrichtung trotz des Corona-Ausbruchs bereits wieder erhalten hatte – und begann damit, die verwaisten Betten und Zimmer neu zu belegen. Corona, das so viel Leid nach Furth gebracht hatte, sollte und durfte nicht der Gewinner sein. „Das Leben muss der Sieger sein und weitergehen“, sagte sich Hupf. Der lange Tunnel hatte doch einen Ausgang…