Gesundheit
Ostbayern: Dorado der Knie-Operationen

Wird vorschnell operiert? Eine Studie und der Abbacher Klinikchef bejahen das. Doch für die OP-Zahlen gibt es Gründe.

11.07.2018 | Stand 16.09.2023, 6:06 Uhr

Unterm Messer: Mehr Patienten unter 60 lassen sich künstliche Kniegelenke einsetzen. Foto: Asklepios

Hans Jürgen Heigl ist froh über sein neues Kniegelenk. „Ich kann jetzt, sieben Wochen nach der Operation, schon besser gehen als vorher.“ Der 49-Jährige, der lange in der Landesliga Fußball spielte, litt unter einer schweren Arthrose. Er konnte den Fuß nicht abrollen, fuhr auch Kurzstrecken mit dem Auto, um die Schmerzen zu vermeiden. Ein Gerüst konnte der Chef einer Fensterbaufirma schon lange nicht mehr erklimmen. Heigl hofft, dass ihm das künstliche Gelenk neue Lebensqualität schenkt. Die Krücken hat er schnell zur Seite gelegt.

Immer mehr Menschen lassen sich künstliche Kniegelenke einsetzen. Die Operationszahlen sind zwischen 2013 und 2016 bundesweit auf 170 000 angestiegen. Das Plus beträgt fast 20 Prozent. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Juni hat das herausgefunden. Auffallend: Mehr Patienten unter 60 entscheiden sich für ein Ersatzgelenk.

Bei Hans Jürgen Heigl haben alle anderen Behandlungsmethoden versagt. Es blieb nur die OP. Doch Vorstandsmitglied Brigitte Mohn von der Bertelsmann-Stiftung hält es insgesamt für besorgniserregend, dass immer mehr jüngere Patienten Knieprothesen bekommen. „Das lässt fragen, ob die Operationen medizinisch notwendig sind.“

Kreisklinik und Asklepios vorne

Außerdem fördert die Studie gravierende regionale Unterschiede zutage. In Bayern bekommen wesentlich mehr Menschen erstmals ein künstliches Knie als in allen anderen Bundesländern (260 Eingriffe je 100 000 Einwohner waren es 2016). Deutlich weniger Patienten sind es in Berlin (153) und in Mecklenburg-Vorpommern (164). Die AOK Bayern bestätigt diese Zahl „in der Tendenz“ für ihre Versicherten. Bei den unter 60-Jährigen ergeben sich ähnliche regionale Muster.

„Die aktuelle Bertelsmann-Studie hat wiederum eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Knieendoprothesen in Ostbayern belegt“, sagt Professor Dr. Joachim Grifka, Direktor der Orthopädischen Klinik für die Universität Regensburg im Asklepiosklinikum Bad Abbach. „Das muss zu denken geben, denn die Menschen in Ostbayern sind nicht kränker als in anderen Teilen Deutschlands.“ Grifka wirbt dafür, vor einer OP alle anderen Behandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen – von der physikalischen Therapie über die Krankengymnastik mit Oberschenkeltraining bis zu Verhaltensmaßnahmen.

Zehn Patienten pro Tag kommen zur Zweitmeinungssprechstunde

Wegen der großen Zahl an Knie- und Hüftprothesen hat der Orthopäde eine Zweitmeinungssprechstunde eingerichtet, bei der sich Patienten in der Bad Abbacher Klinik informieren können. Etwa zehn Betroffene kämen pro Tag. „Bei der Hälfte raten wir zur konservativen Behandlung“, sagt Grifka. Es sei nicht das Ziel, über diese Sprechstunde Patienten zu bekommen. Aber es gebe immer wieder Ratsuchende, die nicht mehr zum Erstbehandler möchten.

„Das Geschäft rechnet sich.“Sigrid König, Vorständin des Landesverbands der Betriebskrankenkassen

Die Bad Abbacher Fallzahlen können sich sehen lassen. Jährlich erhalten nach Aussage von Prof. Grifka 700 bis 800 Menschen ein neues Kniegelenk. 549 künstliche Kniegelenke setzte die Asklepios-Klinik Lindenlohe 2016 ein, 578 waren es 2017. An der Kreisklinik Wörth waren es 433 (2016) und 454 (2017). Das Krankenhaus Roding mit 235 (2016) und das der Barmherzigen Brüder Regensburg mit 213 (2017) folgen. Laut Studie der Bertelsmann-Stiftung sind Knieprothesen-OPs für die Kliniken lukrativer geworden, seitdem ab 2013 eine zentrale Fallpauschale mehrfach erhöht wurde. Je mehr eine Klinik operiere, desto mehr Geld bekomme sie. Nach Einschätzung von Krankenkassen setzen im Freistaat Ärzte und Kliniken besonders darauf, mit Knie-OPs ihre Einnahmen zu erhöhen. „Das Geschäft rechnet sich“, sagt Sigrid König, Vorständin des Landesverbands der Betriebskrankenkassen.

60-Jährige wollen klettern und Kajak fahren

Andererseits stellt die Bayerische Krankenhausgesellschaft fest, dass im Freistaat mehr Menschen künstliche Kniegelenke wünschen. Dr. Thomas Katzhammer, stellvertretender Vorsitzender des Regensburger Ärztenetzes, sagt, die steigenden OP-Zahlen hingen auch mit dem Leistungsanspruch der Patienten zusammen. „Die wollen mit 60 oder 70 gelenkbelastende Sportarten durchführen– Wandern, Klettern, Kajakfahren.“ Der Orthopäde sieht sich als Anwalt des Patienten, der bis ins hohe Alter Sport treiben will.

Die bayerischen Spitzenkliniken und gut ausgebildete niedergelassene Operateure erhöhen die Nachfrage. Mehr „Medizintouristen“ kommen. Asklepios-Pressesprecher Mathias Eberenz bestätigt das etwa für die Klinik Lindenlohe bei Schwandorf. Das Einzugsgebiet wächst. Im Vorjahr kamen acht Prozent der OP-Patienten aus einem größeren Einzugsgebiet, 2010 war es ein Prozent.

Der Patient entscheidet

Für Dr. Jan Böcken, Gesundheitsexperte bei der Bertelsmann-Stiftung, kann es völlig in Ordnung sein, dass auch jüngere Patienten eine Knie-OP bekommen – solange der Eingriff bedarfsorientiert geschieht. „Kritisch sind die Leistungen, die von Ärzten angeboten werden, aber nicht notwendig sind.“ Häufig gebe es noch Alternativen zur OP. „Bei 60 Prozent aller Indikationen, nicht nur Knie-Leiden, gibt es kein medizinisches Richtig oder Falsch. Deshalb sind die Wünsche des Patienten wichtig“, sagt Böcken. „Er muss so über die Behandlungsalternativen aufgeklärt werden, dass er sich entscheiden kann.“ Dass er etwa sagen könne: Okay, ich nehme das Risiko einer OP auf mich, weil ich mir mehr Lebensqualität erhoffe.

Natürlich müssten Ärzte erläutern, was mit Physiotherapie erreicht werden und was der Patient selbst machen kann, um Beweglichkeit zu erlangen. Ist die OP unumgänglich, sollten Betroffene Kliniken mit hohen Fallzahlen wählen.

Briten warten zwei Jahre auf ein Kniegelenk

Der Regensburger Orthopäde Katzhammer warnt: „Wir sollten in Deutschland nicht so weit kommen wie Großbritannien, wo volkswirtschaftliche Erwägungen in die OP-Entscheidung miteinfließen – also ob der Patient noch einen Nutzen für die Gesellschaft hat.“ Dort warten die Betroffenen schon mal zwei Jahre auf ein Kniegelenk.

Für Hans Jürgen Heigl aus Miltach wäre das undenkbar gewesen. Firma, Familie und seine Lebensqualität hätten zu stark gelitten.

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