Rettungswesen
Notarzt macht erfinderisch

„Ruhige Feiertage“ – dafür sorgen auch die vielen Einsatzkräfte. Einer, Edward Antczak, will zudem Lücken im System stopfen.

31.12.2017 | Stand 16.09.2023, 6:16 Uhr

Fliegender Wechsel vom Krankenhaus- zum Notarzt: für Edward Antczak Alltag Foto: Sebastian Pieknik

In der Theorie-Prüfung, droben in Norddeutschland, hat er sich noch amüsiert über die Aufgabenstellung „sinkendes Fährschiff, hunderte Ertrinkende“. 30 Jahre später weiß Edward Antczak: Es gibt (fast) nichts, womit man als Leitender Notarzt nicht konfrontiert werden könnte: an der beschaulichen Donau wie auch – Laune des Schicksals – in einem fernen Kriegsgebiet. „Ruhige Feiertage“ sind für die vielen haupt- und ehrenamtlichen Einsatzkräfte im Landkreis, zu denen Edward Antczak gehört, deshalb ein wörtlich gemeinter Wunsch.

Na gut: Dass er tatsächlich als „Leitender Notarzt“ ausrückt, ist für Antczak nicht häufig: „Mehr als zehn Patienten“ wäre etwa ein Szenario, bei dem er dann laut Gesetz das medizinische Kommando hätte; ebenso bei einer „besonderen Lage“. Heute denkt man da leider schnell ans Szenario „Terror-Anschlag“. Vor zehn Jahren kam das selbst dem leidenschaftlichen Rettungsdienst-Strategen Antczak arg theoretisch vor – dessen ungeachtet hat er damals schon einen Kurs bei der Ärztlichen Leiterin der Polizei-Antiterror-Einheit „GSG 9“ belegt. Mittlerweile wird „Arbeiten unter kriegsähnlichen Bedingungen und Beschuss“ den zivilen Rettern standardmäßig gelehrt.

„Kriegsähnlich“ sind bei uns zum Glück bisher allenfalls Ehe-Szenen. Aber Messer und Pistole lösen auch im Raum Kelheim mitunter Blaulicht-Einsätze aus. Und dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, am Einsatzort auf den Kelheimer Edward Antczak zu treffen. Denn als „normaler“ Notarzt ist er, zusätzlich zu seinem Brotberuf als Arzt an der Goldberg-Klinik, rund 200 Mal im Jahr unterwegs; Seine angepeilten zwei 12-Stunden-Bereitschaftsschichten pro Woche wachsen sich fast immer auf drei aus.

Rettungswagen ersetzt Traktor

Die Rambo-Mentalität, mit der TV-Helden an den Einsatzort stürmen, die war’s gewiss nicht, was ihn zu Kelheims Mann für alle Notarzt-Fälle gemacht hat. Sondern die schiere Not zu Beginn seines Berufslebens. Er, der vorm Studium einen Schwesternhelferinnen-(!) Kurs und die Rettungssanitäter-Ausbildung absolvierte, hatte schon als Pflegediensthelfer in Rotthalmünster mit den Unzulänglichkeiten der damaligen Notfall-Medizin zu kämpfen: „Einmal war ich eine Viertel Stunde allein mit einer Ladung Unfallverletzter, die zum Teil mit dem Traktor angeliefert worden sind…“ Quantensprünge hat seither die Ausbildung von Notärzten sowie Rettungs- und jetzt Notfall-Sanitätern zurückgelegt; ebenso die – weitgehend standardisierte – Art und Ausstattung von Einsatzfahrzeugen.

Bei dieser Professionalisierung war nicht selten die Region Kelheim Vorreiterin. Und nicht selten haben sie auch hier erst mal die Augen verdreht, weil der nervige Arzt von der Goldberg-Klinik schon wieder was Neues im Rettungswesen einführen wollte. Zum Beispiel, nachdem er mal interessehalber die Daten zu 1500 Notfallpatienten ausgewertet hat, die der Sanka in die Kelheimer Kardiologie brachte: „Deren Überlebenschance war mehr oder weniger an eine maximal vierminütige Entfernung gekoppelt“.

Diese Erkenntnis bescherte ihm zehn Jahre lang viele Arbeitskreis-Treffen am Innenministerium, die in ein Kelheimer Pilotprojekt zur „Automatisierten Externen Defibrillation“ mündete. Damals fast ein Sakrileg, weil die Verabreichung von Stromstößen gegen Kammerflimmern Ärzten vorbehalten war. Aber bei so was gibt Antczak gern den Nestbeschmutzer. Denn seit halbautomatische „Defis“ in Rettungswagen und in vielen öffentlichen Einrichtungen verfügbar sind, kommen Herz-Patienten auch jenseits der vier Minuten lebend am Goldberg an…

Diese Frage begleitet Edward Antczak durch sein Notarzt-Leben,für das ihn kürzlich die Stadt Kelheim mit der Bürgermedaille geehrt hat:„Hätte man an der eigenen Arbeit oder am System was verbessern können?“ Kann er beides verneinen, „dann kann man auch den Tod als Schicksal akzeptieren“. Dennoch gibt es Einsätze, die, wären sie häufiger, selbst ihn den Beruf wechseln ließen, gesteht er: wenn etwa Angehörige zum toten Unfallopfer kommen; wenn Eltern vor den Augen ihrer Kinder sterben oder umgekehrt. „Das bringt einen an physische Grenzen“ und auch darüber hinaus.

Erträglich bleibt es, weil er andererseits „so viel zurückbekommt“. Etwa, wenn das blutüberströmte Unfallopfer Wochen später, genesen, „Danke“ sagt. Oder sich ein Vater bedankt, weil der Notarzt seinem Sohn schon als Kind und nun als jungem Unfallopfer erneut das Leben gerettet hat, das schon verloren schien. Gerade solche Fälle lehren einen auch immer wieder, vermeintlich hoffnungslose Einsätze nie vorschnell aufzugeben, sagt der 63-Jährige – wohl wissend, dass das Rettungswesen hier bei uns wohl ein Maximal-Niveau erreicht hat. Oder vielleicht schon überschritten hat.

Denn der technische Fortschritt geht zwar weiter. Aber Nachwuchssorgen machen sich allmählich auch im Rettungswesen breit, auf professioneller wie ehrenamtlicher Basis. Kein Wunder angesichts von oft sehr fordernden Einsätzen zu jeder Tages- und Nachtzeit und einem hohen Aus- und Weiterbildungs-Aufwand. Für den „Leitenden Notarzt“ etwa braucht es mehrjährige Notarzt-Erfahrung, etliche Kurse, eine umfangreiche Prüfung. Dann freilich ist man – als bodenständiger Niederbayer – gewappnet selbst für Katastrophen auf hoher See:

Fernrettung im Indischen Ozean

Als vor vielen Jahren ein Amateurfunker per Zufall den Notruf eines Schiffes in Kriegsgebiet auffing, blitzte er bei Polizei und Behörden ab. Funkers Nachbar aber – selbst ein Sanitäter – analysierte vorschriftsgemäß: „besondere Lage, also: Leitenden Notarzt einschalten“. So kam Edward Antczak ins Spiel, und da hat sogar er erst mal kurz nachdenken müssen. Dann aber die SAR-Nummer gewählt, die weltweite Such- und Rettungsdienst-Alarmierung für Luft- und See-Notfälle. So wurde Antczak zum mutmaßlich einzigen Kelheimer, der je einen Rettungseinsatz im Indischen Ozean auslöste.

Weiterer Jahresrückblick:

Das passierte im Jahr 2017 im Landkreis Kelheim