Furchtlos in Kiew
Ein Riedenburger reist durch die Ukraine: Was er dort erlebt hat

18.11.2022 | Stand 15.09.2023, 2:51 Uhr
In Kiew stehen noch viele ausgebrannte russische Militärfahrzeuge. Sie sind mit dem bekannten „Z“ gekennzeichnet und Alfons Stauner ergänzte den Buchstaben eigenhändig mit Kreide: „Zerstört“. −Foto: Stauner

Das Reiseziel ist außergewöhnlich. Alfons Stauner aus Riedenburg (Landkreis Kelheim) fuhr als Tourist eine Woche durch die Ukraine. Unserer Zeitung berichtete der 70-Jährige von seinen Erlebnissen.



Er fotografierte ausgebrannte Panzer, Trümmer russischer Raketen und die Kränze auf Massengräbern. Im rollenden Zug trank er Whisky mit ukrainischen Soldaten. Dabei sah er, wie sich die seit neun Monaten von einem verheerenden Krieg gebeutelten Menschen stückweise ihre Normalität zurückerobern.

Alfons Stauner ist Rentner. Während seines Berufslebens war er als Ingenieur für Kunststofftechnik häufig in exotischen Ländern tätig. Während des ersten Golfkriegs zwischen dem Iran und dem Irak arbeitete er in dem Mullah-Staat. Es verschlug ihn unter anderem nach Saudi-Arabien und Indien. Dabei musste er manche brenzlige Situationen bewältigen. Eine Zeit lang lebte er in den USA.

Vor zehn Jahren kam er durch Zufall nach Riedenburg. Es gefällt ihm gut hier. Reisen in europäische Länder sind sein Hobby, nun hat er die Zeit dafür. Im vergangenen Jahr fuhr er durch Rumänien und Moldawien, zwei Länder, „die zu Unrecht einen schlechten Ruf haben“, wie er findet. Es wäre nur ein Katzensprung in die Ukraine gewesen.

Reise nach Kiew einfacher als gedacht

Seit dem Ausbruch des Krieges verfolgt er im Internet alle Nachrichten dazu. Nun, da sich die Lage zumindest in Kiew und in Lemberg entschärft hat, reifte sein Entschluss, in die Ukraine zu fahren. Das gestaltete sich einfacher als gedacht. Ein Billigflug von Nürnberg ins polnische Krakau war schnell gebucht. Dort bestieg Stauner den Zug nach Przemysl, drei Stunden war er unterwegs. Die galizische Stadt ist der Grenzort zwischen Polen und der Ukraine. Im dortigen Bahnhof erfolgte der Umstieg in die ukrainische Eisenbahn, die eine größere Spurbreite aufweist.

Kurz vor Mitternacht fuhr der Zug nach Kiew los. „Wegen der schlechten Schienen ratterte der Zug so stark, dass man in Deutschland die Notbremse gezogen hätte“, erinnert sich Stauner. Erst als Kiew näher kam, sei das besser geworden. Während der Nachtfahrt war kaum etwas zu sehen. Der Zug stoppte an vielen Bahnhöfen, auf den Nebengleisen seien lange Tankzüge gestanden.

Gegen 8 Uhr kam Stauner in der ukrainischen Hauptstadt an. Sein erster überraschender Eindruck: Es waren keine Zerstörungen zu sehen. „Man erkannte nicht im geringsten, dass Krieg ist.“ Lediglich ein mehrere 100 Meter entferntes Kraftwerk war bombardiert worden. Mit der U-Bahn fuhr er zum Majdan, dem bekannten Platz der Unabhängigkeit, wo er bereits von daheim aus ein Hotel gebucht hatte. Die Nacht kostete 30 Euro.

Gegen Mittag heulten plötzlich alle Sirenen. Luftalarm. Doch zu seiner Verblüffung stellte Steiner fest, dass die vielen Menschen auf dem Majdan ungerührt ihren Geschäften nachgingen und nicht die kleinste Reaktion zeigten. Auch im Hotel sei mit Schildern darauf hingewiesen worden, bei Alarm sofort den Keller aufzusuchen. „Das interessierte aber niemand“, meinte Stauner trocken. Sein Versuch einer Erklärung für diese Abgebrühtheit lautet wie folgt: Kiew ist eine riesige Stadt mit rund drei Millionen Einwohnern. Zum Vergleich: Niederbayern hat rund 1,25 Millionen Einwohner. Wer würde in Riedenburg von der Straße flüchten, wenn Landshut angegriffen würde?

Zwiespältiger Eindruck

Stauner stromerte weiter durch die ukrainische Kapitale. Die Gaststätten und Cafés seien voll von Menschen gewesen. Das hinterließ bei ihm einen zwiespältigen Eindruck: Junge Leute, die das Leben genießen, während „die armen Kerle an der Front sterben“. Ungewöhnlich seien lediglich die vielen aufgeschichteten Sandsäcke und Militärposten auf den Straßen gewesen. „Doch die Soldaten waren sehr freundlich. Das waren ordentliche Leute, die bei mir einen guten Eindruck hinterließen.“In Kiew war lediglich die Straßenbeleuchtung zur Nachtzeit reduziert. Einen Strom- oder Wasserausfall habe er nicht erlebt. Angst habe er zu keiner Minute verspürt.

Nach einer ruhigen Nacht im Hotel mietete sich der Riedenburger am Morgen ein Taxi. Seine Ziele waren der Flugplatz Hostomel, wo nach heftigen Kämpfen die russische Luftlandung scheiterte, sowie die Städte Butscha und Irpin, die nach dem Beginn des Krieges Ende Februar schnell in russische Hand gefallen waren. Nach der Rückeroberung durch die ukrainische Armee machten die beiden Orte weltweit traurige Schlagzeilen, weil die russische Soldateska dort während der Besatzung Gräueltaten begangen hatte. Den Opfern der Massaker erwies Stauner auf einem Friedhof die letzte Ehre.

Soldaten mit Kriegsfotos auf dem Handy

Nach zwei Übernachtungen in Kiew fuhr er gegen 23.30 Uhr nach Lemberg weiter. Sein Abteil der ersten Klasse teilte er sich mit einem Soldaten der ukrainischen Armee, der auf Urlaub war. Im Laufe der Fahrt gesellten sich weitere Soldaten zu ihnen. Stauner zog eine Flasche Whisky aus der Tasche und befüllte einige eigens mitgebrachte Pappbecher. Das lockerte die Zunge der Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit. Auf ihren Handys zeigten sie Bilder von ihren Stellungen, ihren Waffen und von den getöteten russischen Soldaten. Als auf den Handys die Nachricht „Cherson is liberated“ aufploppte, sei die Stimmung noch besser geworden. „Alle verlangten meine Kontaktdaten, denn wenn der Krieg vorbei ist, wollen sie wieder ins Ausland fahren.“

Angekommen in Lemberg, geriet Steiner bei der Besichtigung einer großen Kirche durch Zufall in die Beerdigung eines jungen Soldaten. Derlei Begräbnisse würden derzeit leider jeden Tag stattfinden, erfuhr er. Das habe die Lemberger aber nicht daran gehindert, die Altstadt am Abend in eine Partymeile zu verwandeln. Überall sei die Befreiung von Cherson gefeiert worden.

„Solange Putin da ist, geht der Krieg weiter“

Von Lemberg nahm Stauner den Zug zurück nach Przemysl und flog von Krakau aus wieder heim. Trotz des von den ukrainischen Soldaten zur Schau gestellten Optimismus, den Krieg zu gewinnen, bleibt er skeptisch. „Putin kann nicht zurück. Er muss sich entweder einen Revolver nehmen, oder nach Nordkorea ins Asyl gehen. Aber solange Putin da ist, geht der Krieg weiter.“

Für sich selbst zieht der Riedenburger folgende Bilanz seiner Reise: Er habe Dinge gesehen, die man in Europa eigentlich nicht mehr erlebt. Mit seinem Bericht für unsere Zeitung wolle er mehr Verständnis für den gerechten Kampf der Ukrainer wecken. „Für mich selbst war es zwar anstrengend, aber es war die Sache wert. All Inclusive mag ich nicht.“

− rat