Wirtschaft
Weihnachten 1994 – das Ende einer Ära

Anfangs als modernstes Zellstoffwerk der Welt bejubelt, ging die Anlage im September 1993 in Konkurs.

23.12.2014 | Stand 16.09.2023, 7:07 Uhr
Sigrid Manstorfer
Das Zellstoffwerk von der Maximiliansbrücke aus gesehen – es wurde am 25. September 1992 eröffnet. Ein Jahr später ging es in Konkurs −Foto: Fotos: Manfred Forster (6), Archiv (3)

„20 Jahre ist das schon her?“, fragt Alois Wittmann. 40 Jahre lang hat er in der KelheimerZellstoff-Fabrikgearbeitet, war als Oberwerkführer für die Zellstoffherstellung zuständig und zugleich Ausbilder für die Papier- und Zellstoffmacher. Heute ist der Ihrlersteiner fast ein wenig verwundert, als ihn die MZ-Reporterin über das Geschehen vor zwei Jahrzehnten befragt. Es habe alles so vielversprechend angefangen, sagt er und schildert, mit welch großen Hoffnungen die Bevölkerung an die Versprechungen von der modernsten, zukunftsweisenden Zellstoff-Fabrik Glauben schenkte:

Dass die alte Fabrik nicht mehr so weiterbestehen konnte, war klar. Deshalb begrüßten es alle, dass mit Organocell ein ganz neues Verfahren Einzug halten sollte und dass so große Geldgeber wie der Verleger Burda beim Bau der neuen Fabrik einsteigen wollten.

Sahen auch Sie darin eine große Zukunft?

Die neue Technologie wäre in der Zellstoffherstellung ja eine Revolution gewesen. Zellstoff ohne Schwefel und ohne Chlorbleiche herzustellen, war etwas völlig Neues. Und es sollte in Kelheim ja nicht nur Zellstoff hergestellt werden, sondern das gesamte Verfahren sollte auch in andere Länder weiterverkauft werden. In Kelheim entstand also eine Musterfabrik. Es ging schon auch ums Know-how.

Waren Sie während der relativ kurzen Bauzeit noch zuversichtlich?

Leise Zweifel waren bei mir schon da, weil ich selbst die Anlage in München-Pasing gesehen habe und auch mitreden durfte. Was in Kelheim realisiert werden sollte, war dort im Kleinen aufgebaut. Selbst dort waren schon sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielt worden. Dass das Ganze dann völlig reibungslos in einer Riesenanlage laufen sollte, konnte ich manchmal nicht glauben.

Im Dezember 1992 erst ist die neue Organocell-Fabrik mit viel Brimborium eröffnet worden. War ihr schnelles Ende absehbar?

Wir alle waren doch voller Hoffnung und Zuversicht. Beim Niedergang spielten dann einige sehr unterschiedliche Fakten eine Rolle. Einmal gab es ganz normale Anlaufschwierigkeiten. Zugleich aber fiel der Zellstoffpreis rasant, weil in Ländern mit Zellstoff-Industrie und viel Holz noch schnell hergestellt und auf den Markt geworfen wurde, was nur ging. Von den alten Zellstoffherstellern wollte kaum jemand die Kosten für die Umrüstung auf das neue Verfahren aufwenden. Ja, und in Kelheim, da hätte man eben nochmals viel Geld nachschieben müssen.

Waren die Schwierigkeiten in Kelheim unüberwindbar?

Auch aus heutiger Sicht wären wohl die finanziellen Hürden nicht zu bewältigen gewesen. Außerdem war der erzeugte Zellstoff einfach nicht weiß genug. Es gab noch weitere Schwierigkeiten. Und wie man hörte, hätte es wohl nochmals 70 Millionen gebraucht, um die Nachbesserungen durchzuführen.

Worin bestanden die?

In erster Linie ging es darum, dass eigentlich das Ganze noch nicht ausgereift war, um voll in Produktion zu gehen. Das in Pasing war ja mehr so etwas wie ein Laborbetrieb. Dass es dann bei der Umsetzung ins Riesenhafte Schwierigkeiten gab, war eigentlich zu erwarten. Es gab auch ein paar Probleme, die voraussehbar waren. Die Verweildauer des Hackschnitzelmaterials beispielsweise: Die Imprägnierung – also das Aufquellen der Holzschnitzel – war zu kurz bemessen. Dazu hätte der Kocher erhöht oder erweitert werden müssen. Der Erfinder des Verfahrens hatte beispielsweise eine Zwei-Stufen-Imprägnierung vorgesehen, weil die Holzqualität nicht immer gleich ist. Auch beim Bau des Werkes hätte wohl eine solche zweite Stufe vorgesehen werden müssen. Aber da hatte man eben an der falschen Seite gespart, und jetzt hätte für Millionen nachgerüstet werden müssen.

Und dieses Geld wollte keiner mehr geben?

Die fallenden Zellstoffpreise und die Schwierigkeiten in der Anlaufphase haben wohl den Geldgebern einen Schrecken eingejagt. Es kam kein neues Geld mehr.

Kelheimer und ehemalige Mitarbeiter erinnern sich, dass der Stoff nicht weiß genug werden wollte und dass es auch zu Schwierigkeiten kam, so dass schon am Anfang eine Stilllegung erfolgen musste. Wie kam es dazu?

Im Januar 1993 musste der gesamte Kocher entleert werden. Ich habe von Anbeginn an alle Veröffentlichungen über das Werk gesammelt und dokumentiert und auch einen Film gedreht: von der Ankunft des Kochers bis zu seiner vielbeachteten Aufstellung, und von der gesamten Entstehung des Werkes, dem Richtfest und allem anderen. Deshalb kann ich alles genau nachlesen. Das Ausräumwerk am Kocherboden habe nicht richtig gearbeitet, so dass sich Stoff aufbaute und der gesamte Inhalt deshalb geleert werden musste, heißt es in der damals veröffentlichten Erklärung.

Was war schuld an den Kocher-Schwierigkeiten?

Die zu kurze Verweildauer der Hackschnitzel führte dazu, dass der Brei, der hätte entstehen sollen, nicht stimmte. Es kam zu Verstopfungen in der Anlage. Trockenes und feuchtes Holz, das unterschiedlich angeliefert wurde, hätte auch unterschiedlicher Imprägnierzeiten bedurft, auch deshalb kam es zu den Schwierigkeiten. In den nachfolgenden Sortierungsanlagen gab es dann selbstverständlich Stockungen, weil der Anteil nicht gekochter Hackschnitzel und damit der Ausschuss sehr groß war.

Im April und Mai 1993 sprach man im Werk immer noch von Anlaufschwierigkeiten – im September 1993 wurde Konkurs angemeldet. Wie haben Sie das erlebt?

Wir im Werk haben halt immer noch gehofft. Aber das mit dem Konkurs traf mich dann wie ein Schlag. Ich hatte es auch erst zwei Wochen vorher erfahren und mir steckt der Schreck noch immer in den Gliedern. Am 15. September 1993 schied fast die gesamte Mannschaft aus; ich war auch dabei. Das war schrecklich. Nach 40 Jahren Arbeit in einem Werk, da hängt man mit Herz und Seele dran.

Dann kam die lange Zeit von Bietern und Bewerbern und schließlich die Zeit der Warmhaltephase. Wie erlebten Sie die?

Man sagt zwar immer: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und da war ich ja auch noch mit Waldbauern und Interessenten aus Kelheim sowie der Zuckerfabrik in Regensburg im Gespräch, die an einem Weiterbestand des Werkes interessiert waren. Vom Warmhaltebetrieb selbst hielt ich mich fern. Als ihn der Landkreis komplett einstellte, war es aus. Ich hab mich erst erholen müssen und war froh, dass ich meiner Tochter beim Hausbau helfen konnte. Da war ich abgelenkt.