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Johannes Pazulla: 30 Tage Ungewissheit

Seit 23. April fehlt von dem Studenten aus Regenstauf jede Spur. Jetzt appelliert die Familie in einem Video an ihn.

23.05.2019 | Stand 16.09.2023, 5:44 Uhr

Johannes Foto: privat

Das Football-Trikot ist auf der Couch ausgebreitet. Die Bücher fürs Studium liegen griffbereit am Schreibtisch. Kater Jessi sitzt auf seinem Lieblingsplatz am Fenster. Im Jugendzimmer von Johannes Pazulla ist eigentlich alles so wie immer. So, als würde der 20-Jährige gleich zur Tür hereinkommen, sich auf seine Couch setzen und mit Jessi auf dem Schoß ein Computerspiel beginnen. Doch das Zimmer ist seit vier Wochen verwaist. Seit dem 23. April ist der Informatikstudent aus Regenstauf (Lkr. Regensburg) verschwunden. Ohne ein Wort des Abschieds. Nichts, sagt seine Mutter Gabriele, war an diesem Nachmittag anders als sonst. Aber jetzt, jetzt ist alles anders. Jetzt ist da dieses Vakuum und so viele Fragen.

Das Schlimmste, sagen seine Schwestern, ist dass nichts zusammenpassen will. Johannes hat sich Sportklamotten angezogen und einen Rucksack gepackt. So wie immer, wenn er joggen ging. Seine Mutter erinnert sich, dass sie ihm noch hinterherrief, dass er seine Runde in einer Stunde beenden müsste, um noch kurz auf seinen Neffen aufzupassen. „Das waren die letzten Worte, die wir gewechselt haben.“ Selbst als Johannes am Abend nicht mehr nach Hause kam, wurde noch niemand misstrauisch. Manchmal schlief er bei einem Freund und ging am nächsten Tag von dort direkt in die Vorlesung. Aber als die Kommilitonen am Donnerstag anriefen, dass Johannes nicht an der OTH war, da wurde die Familie hellhörig und ging zur Polizei.

Jeden Papierschnipsel gelesen

Die Schwestern haben sein Zimmer auf den Kopf gestellt. „Jeden Papierschnipsel haben wird zusammengepuzzelt und geklebt, sagt Renate Koisegg. Gefunden haben sie nichts: keinen Abschiedsbrief, keinen Hinweis auf eine Auszeit. Aber seinen Computer hat Johannes leergeräumt. Der Internetverlauf ist gelöscht, es befinden sich keinerlei Dateien mehr darauf, selbst das geschützte Passwort hat er entfernt. „Warum macht man das“, fragt sich die Familie. Ein Schlussstrich? Ein Neuanfang?

Das Wenige, was Johannes bei sich hat, muss in den kleinen Rucksack gepasst haben. Der Geldbeutel samt Ausweispapieren fehlt, der Schlüsselbund ist weg. Sein Handy hat er mitgenommen. Doch das ist seit jenem Dienstagabend, an dem er verschwunden ist, nicht mehr erreichbar. Bargeld? Die Mutter sagt, er hat einem Bekannten viel beim Holz machen geholfen und sich so ein Taschengeld dazuverdient. Vielleicht hat er es gespart? Möglich, sagt Gabriele Pazulla. Johannes war jemand, der wenig Geld für sich gebraucht habe, sagen die Schwestern. Es muss also nichts Schlimmes bedeuten, dass vom Konto des 20-Jährigen kein Geld mehr abgehoben wurde.

Die Polizei sagt, der Fall ist völlig offen. Die Familie glaubt fest daran, dass Johannes noch am Leben ist. Tatsächlich gibt es Fälle, in denen Menschen einfach verschwinden, etwa weil sie nicht mehr wissen, wer sie sind. So ist es ziemlich genau neun Jahre her, als die Welt über den „Piano Man“ staunte. Die Presse berichtete international über den junger Mann, der im eiskalten Wasser sitzend an der Küste von Kent aufgefunden worden war. Man brachte ihn in die Psychiatrie. Er sprach nicht, er spielte nur Klavier. Später stellte sich heraus, dass der 20-Jährige eigentlich aus der Oberpfalz stammte und eine schwere Psychose erlitten hatte. Depressionen nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle in Paris hatten zu der schweren Erkrankung geführt. Die Menschen, die den Piano Man von früher kannten, beschrieben ihn als hochintelligenten, introvertierten Menschen.

Introvertiert und sehr klug, so wird auch Johannes von seinen Freunden beschrieben. „Er hat eigentlich nie viel von sich offenbart“, sagt Adrian Stollreiter. „Jopper“, wie er ihn nennt, habe seine Emotionen lieber für sich behalten. Dann allerdings, vor einigen Monaten, vertraute er Adrian Stollreiter an, dass es ihm in der letzten Zeit nicht so gut gegangen sei. Doch das sei inzwischen überwunden, ließ er seinen Schulfreund wissen. Anzeichen, dass er in jüngster Zeit erneut in schlechterer Verfassung gewesen sei, hätten sie nicht bemerkt, sagen die Mutter und seine Schwestern. Er habe sich um eine Stelle für sein Praxissemester gekümmert, sei seinen Hobbys – Motorradfahren, American Football und Jiu Jitsu – nachgegangen. Mit seiner Vierer-Clique, zu der auch Laura Wallinger gehört, verbrachte er die Abende lieber in Kneipen als in der Disco. „Für Disko ist er viel zu steif“, sagt sie – und lacht. Es ist eine von vielen Erinnerungen, die die Freunde am Dienstagnachmittag teilen, während sie mit der Familie am Esszimmertisch sitzen und überlegen, wie die Suche nach Johannes nun weitergehen könnte.

Polizei tritt auf der Stelle

Einig sind sich alle, dass etwas getan werden muss, allein schon deshalb, um neue Hinweise zu erhalten. Denn die Polizei tritt in dem Vermisstenfall derzeit auf der Stelle. „Was wir brauchen sind neue Anhaltspunkte, um die Suche wieder aufzunehmen“, sagt Polizeisprecher Florian Beck. „Natürlich wollen wir alles daran setzen, um den Fall zu klären.“ Aber derzeit sei es wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. Wo anfangen, wo aufhören?

Polizeihunde hatten bei einer Suche Johannes Spur am Schloßberg, dem Naherholungsgebiet in der Marktgemeinde Regenstauf, aufgenommen. Dort haben anschließend mehr als 200 freiwillige Helfer alles nach dem Studenten abgesucht. Ohne Ergebnis. „Dass wir nichts gefunden haben, das hat uns auch ein bisschen erleichtert“, sagt seine Schwester Ewa Wunderle. Denn auch die Angst, dass Johannes verunglückt sein könnte, ist immer da. Aber da ist noch diese andere Spur, diese Spur, die Hunde bei einer privaten Suchaktion gefunden haben. Sie führt in Richtung Autobahn 93. Dort, am Schnellrestaurant Mc Donalds, nahmen sie Fährte auf. Die Familie mutmaßt, dass Johannes in ein Auto eingestiegen sein könnte und gar nicht mehr in der Region ist. Deshalb haben sie längst Flugblätter mit seinem Foto in großen deutschen Städten verteilt. Bis nach Frankfurt, Dresden und Hamburg. Die Wurzeln unserer Familie liegen in Polen, sagt Ewa. Aber auch das ist schwer mit Johannes Verschwinden in Zusammenhang zu bringen. „Eigentlich hat ihn das nie interessiert.“

Weil nichts ausgeschlossen, nichts eingegrenzt werden kann, ist die Familie inzwischen hochgradig verzweifelt. Wenn das Telefon klingelt oder es an der Tür schellt, dann gerate sie regelrecht in Panik, sagt Gabriele Pazulla. Deshalb bitten Familie und Freunde nun in einem ganz persönlichen Videoappell den 20-Jährigen um ein Lebenszeichen. „Wir brauchen nur ein Signal, dass es ihm gut geht. Danach lassen wir ihn auch in Ruhe, wenn er das will“, betont seine Schwester Renate Koisegg. Die Polizei sagt: Alles, was zu neuen Hinweisen führt, ist hilfreich. Und Kater Jessi wartet weiter in Johannes Zimmer und hält am Fenster Ausschau.

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