MZ-Serie
Der Hüter des Oberen Friedhofs

Der Regensburger Markus Fischer begegnet täglich dem Ende des Lebens. Er weiß eines gewiss: Zum Fürchten ist der Tod nicht.

29.11.2014 | Stand 12.10.2023, 10:03 Uhr
Angelika Sauerer
„Man denkt nicht drüber nach, wie schnell die Zeit vergeht“, sagt Friedhofsverwalter Markus Fischer. Und dann ist es vorbei. „Leb jeden Tag, als wär’s dein letzter“, nimmt er sich daher vor. −Foto: Sabine Franzl

Unter den schwarzen Gummisohlen knirscht Kies, Regenwasser spritzt an seine dunklen Hosenbeine. Er geht schnell, kreuzt zwischen Gräbern den Hang hoch, während sich 30 Meter entfernt der Trauerzug den geteerten Pfad hinaufschiebt. Markus Fischer bleibt stehen und sieht zu, wie sich die Trauernden ums Grab verteilen. Wortfetzen wehen herüber, „Vater unser“ und „Amen“, vermischen sich mit trommelnden Tropfen auf gespannten Schirmen. Vier Sargträger, Fischers Truppe, lassen den Sarg langsam an Seilen hinuntergleiten in die Grube, die sie zuvor ausgehoben haben. Statt lehmiger Arbeitsklamotten tragen sie nun würdevolle Kutten und gebürstete Kappen. „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, sagt der Pfarrer. Dann ist es vorbei.

Markus Fischer ist zufrieden: kein Fehler. Wenn er nicht selbst als Sargträger einspringt, was äußerst selten vorkommt, schaut der Chef des Regensburger Oberen Katholischen Friedhofs von weitem bei den Beerdigungen zu. Es ist der letzte Kontrollgang, mit dem er den letzten Weg eines Toten begleitet, und es ist sein Anspruch, dass dieser Weg – was alle organisatorischen Abläufe anbelangt – störungslos und unfallfrei beschritten wird. „Bei einem Begräbnis darf nichts schiefgehen. Wenn die Familie Abschied nimmt, muss alles klappen“, sagt er. Ein paar Tage später wird er kurz vor einer Trauerfeier in der Aussegnungshalle einen Kranz entdecken, der zu einem anderen Trauerfall gehört. Gut, dass Markus Fischer den Irrtum einer Gärtnerei rechtzeitig bemerkt. Und typisch ist es auch.

Mag sein, dass der Umgang mit dem Tod Genauigkeit lehrt und das Bewusstsein dafür, dass nicht jeder Fehler ausgebügelt werden kann wie die Falten auf der Sargträgerkutte. Gut möglich, dass Markus Fischer seine beruhigende Gründlichkeit aber schon mitbringt, als er im April 1990 die Stelle als Friedhofsarbeiter antritt. Fischer ist in Burglengenfeld geboren, er hat sechs Geschwister. Als er 14 ist, zieht die Familie nach Regensburg. Er lernt Maurer, arbeitet ein Jahr als Geselle. Aber die Stempelzeit mag er nicht, das Nichtstun im Winter nervt.

Man stößt auf Knochen, aber das liegt in der Natur der Sache

Auf dem Friedhof, erzählt ihm sein Bekannter Hans Reiter, gebe es immer etwas zu tun. Markus Fischer schaut sich die Arbeit an und sie gefällt ihm: „Kein Fließband.“ Am Fließband, sagt er, ginge er kaputt. Die Arbeit ist abwechslungsreich: Hecken schneiden, Rasenmähen, Kehren, im Winter Schneeräumen und generell alles, was in Haus und Hof anfällt. Und natürlich auch Gräber ausheben, zuschütten, einen schönen Hügel aufschichten und, sobald der sich gesenkt hat, Umrandungen setzen. Ein gutes Grab zu bauen, das ist eine Wissenschaft für sich und eine harte Arbeit, zumal nicht überall die Böden aus lockerem Humus bestehen. Als es noch keine speziellen Grabbagger gibt, die an fast jeder Engstelle buddeln können, müssen Markus Fischer und seine Kollegen bis zu zwei Meter tief das Erdreich von Hand ausschaufeln, oft zwei Gräber pro Tag. Eine schwere Arbeit, nicht nur körperlich. Man stößt auf Knochen und Schädel, das liegt in der Natur der Sache. „Die legt man dann beiseite und bettet sie, wenn man fertig ist, wieder ins Grab zurück“, erklärt Fischer. Manchmal wird er von Freunden gefragt: „Wie kannst du nur sowas machen?“ Er sagt dann: „Einer muss es tun.“ Und: „Das ist nichts zum Lachen. Man muss mit Verstand dabei sein.“ Genau das ist Markus Fischer. Zwei Jahre später wird er schon Vorarbeiter, dann, nach Hans Reiters Pensionierung, dessen Nachfolger als Friedhofswärter. Er zieht mit der Familie – sein Sohn ist heuer 18 Jahre alt geworden – in die Wohnung am Friedhof.

Von da an ist an den Vormittagen das Büro am Ende des Säulengangs sein Reich. „Oberer Friedhof, Fischer, Grüß Gott“, meldet er sich am Telefon, die Stimme klingt freundlich und geduldig. Stift und Zettel liegen auf der schwarzen Unterlage bereit. Jemand will ein Grab auflassen. Dann ein Rückruf wegen einer fehlenden Angabe zu einem Trauerfall. Es klopft, Mutter und Sohn treten ein und erkundigen sich nach dem Ablauf der bevorstehenden Beerdigung eines Angehörigen. Als nächstes ein Gärtner, der Blumenschmuck auf einer Urne befestigen möchte. Dann die Kreuzträgerin, die auf den Laufzetteln an der Pinnwand ihre Einsätze abhakt. Mit grünen Magneten haften Erdbestattungen, mit roten die Urnenbeisetzungen an der Tafel. Fein säuberlich sind die wichtigen Infos vermerkt, allen voran die Grabnummer und zusätzlich die Nummern und Namen der Nachbargräber: Irrtum ausgeschlossen. Es wäre eine Katastrophe, würde man das falsche Grab öffnen.

Der Obere Katholische Friedhof, der zur Pfarrgemeinde St. Emmeram gehört, aber allen Konfessionen offensteht, ist zwar nicht der flächenmäßig größte in Regensburg – das ist der städtische Friedhof am Dreifaltigkeitsberg. Aber er ist der mit den meisten Grabstellen: Die Anlage von 1909 mit dem geradezu großstädtisch imposanten Friedhofsbau beherbergt rund 10 000 Gräber in 36 Abteilungen, dazu Ostmauer, Südmauer und Westmauer. Zusätzlich gibt es Urnenwände.

Computer sind gut, Kontrolle ist besser

Markus Fischer holt eine der abgegriffenen Kladden aus Regal und klappt sie auf, darin von Hand gezeichnet Grab neben Grab, Abteilung 29, mit gestochener Schrift die Namen, die Jahreszahlen. Er hat den Plan angefertigt, andere stammen noch vom Vorgänger. Es gibt das alles freilich auch im Computer und noch einmal auf Karteikarte. Aber es ist besser, findet Markus Fischer, etwas in der Hand zu haben. Wenn schon der Mensch im Grab verschwindet, so verliert sich wenigstens sein Name nicht in virtuellen Listen und Formularen. Und indem Fischer die Angaben mehrfach einträgt, kontrolliert er sich laufend selbst. „Ich hab’ ja keinen, der mich überprüft. Also muss ich es selbst tun“, sagt er. Sein System funktioniert. Er hält seinen Kasten sauber, könnte man auch sagen. Fischer ist Torwart bei Dampfwalze 05, der Hobbyverein spielt in der Bunten Liga. „Wir sind zwar etwas älter als die anderen Teams. Aber sie haben Respekt vor uns, weil wir mit Technik und mit Kopf spielen.“

Der Nächste bitte. Ein Mann fragt nach einer Frau, einer Asiatin, die hier begraben werden soll. Den Namen weiß er nicht. Markus Fischer holt ein Din-A-4-Schulhelft hervor, schaut sich die letzten Einträge an. Kein asiatischer Name. Er lässt den Finger über die Zeilen gleiten. Manchmal kennt er die Namen, die er neben den fortlaufenden Nummern notiert. Da hält er kurz inne, erinnert sich an Gespräche, an Begegnungen im Friedhof, daran, wie die Eheleute ihr Grab ausgesucht hatten. Und dann trägt er sie in Schönschrift ein, die Grube wird ausgehoben, der Kreis schließt sich. „Man weiß nie, wann eine Nummer kommt. Irgendwann wird auch meine gezogen. Man denkt sich vielleicht: Wer wird auf meine Beerdigung kommen?“ Mehr aber auch nicht. Markus Fischer, der täglich zwei, drei Trauerfeiern miterlebt, hat keine Pläne für seine eigene. „Mein Sohn weiß dann schon einmal, wie’s für mich passt.“

Es knackt im Lautsprecher, der den Ton aus der Aussegnungshalle ins Büro überträgt. Ein Organist probiert das Instrument aus. Dann Musik vom Band: „Die Gedanken sind frei“. Und die Geschmäcker verschieden. Fischer hört hier alles, „TNT“ von AC/DC, „Thriller“ von Michael Jackson, „Let It Be“ von den Beatles, Klassik. Besonders beliebt ist zur Zeit „Amoi seg’ ma uns wieder“ von Andreas Gabalier. „Wenn es der letzte Wille eines Menschen ist, dann muss man das respektieren“, sagt Markus Fischer, während er die Unterlagen für eine Grabauflassung in einen Folienumschlag schlichtet und sich an den Computer setzt.

Es wird still im Büro. Nur die Tastatur klappert und das Klacken der Funkuhr an der Wand zeigt an, dass die Zeit nicht stehenbleibt, während draußen die Gräber im Regengrau verschwinden. „Man denkt normalerweise nicht drüber nach, wie schnell die Zeit vergeht. Aber ich sehe, wie tragisch das Ende oft ist“, sagt Markus Fischer. Der Tod reißt die Menschen aus einem Leben, in dem sie zu viel aufgeschoben haben. Und dann ist es zu spät. „Leb jeden Tag so, als wär’s dein letzter“, nimmt sich der Hüter des Friedhofs deshalb fest vor.

Die Trauer der anderen und die eigenen Gefühle

Am Feierabend geht Markus Fischer gern spazieren: Abstand gewinnen von der Arbeit und manchmal auch von Tod und Trauer. Normalerweise kann er das: respektvoll mitfühlen, sich nicht hineinziehen lassen. Doch einmal fiel es ihm schwer, er erinnert sich, wie wenn’s gestern gewesen wäre: Ein Familienvater war gestorben, Markus Fischer trug die Urne zum Grab. Da traf ihn der Blick des Kindes. „Ist da tatsächlich mein Vater drin? Was machst Du mit ihm?“ schienen die Kinderaugen zu fragen. Er biss die Zähne zusammen, konzentrierte sich auf etwas anderes. Nicht weinen. „Mit sowas muss man umgehen können.“

Wenn er am Abend von seinen Spaziergängen zurückkehrt und von der lauten Straße in die Friedhofsstille tritt, tankt er die Ruhe, die von den geordneten Reihen, den gekiesten Wegen und den alten Bäumen ausgeht. „So ein Friedhof hat schon etwas Beruhigendes“, sagt er. Und nicht mal der Tod kann das ändern. Markus Fischer hat keine Angst vor ihm.