Interview
Ein Blumenstrauß an Seltenheit

Professor Dr. Mark Berneburg ist Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen Regensburg (ZSER) der Uniklinik Regensburg.

20.08.2018 | Stand 16.09.2023, 6:07 Uhr
Susanne Wolf

Prof. Dr. Mark Berneburg ist nicht nur Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen, sondern auch Direktor der Klinik und Poliklinik für Dermatologie am Universitätsklinikum Regensburg. Foto: Susanne Wolf

Um welche Art von Erkrankungen handelt es sich größtenteils?

Die meisten seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt. Es sind also meist erbliche Erkrankungen, daher sind es meist Kinder, die an den seltenen Erkrankungen leiden. Seltene Erkrankungen können aber in allen Bereichen der Medizin vorkommen.

Kann man von einem Durchschnittsalter sprechen?

Das ist schwer zu sagen. Es gibt Erkrankungen, die sich erst im Erwachsenenalter manifestieren. Weil der größte Anteil erblich bedingt ist, liegt zumindest die Veranlagung dafür schon bei der Geburt vor. Daher haben diese Menschen meist schon sehr früh Symptome. Die meisten der seltenen Erkrankungen zeigen sich ab dem Kindesalter.

Zeigen sich seltene Erkrankungen dann schon als Krankheit, da sie ja noch nicht gut erforscht sind, oder an was kann man sie festmachen?

Menschen mit seltenen Erkrankungen leiden an den Krankheitszeichen oder Symptomen. Da es sich aber um seltene Erkrankungen handelt, ist die zugrundeliegende Ursache lange unklar. Insofern ist das für sie schwer und oft ist es ein langer Weg zwischen Symptomen und erster Diagnosestellung. So dauert es im Durchschnitt etwa sieben Jahre, bis nach den ersten Symptomen die Diagnose gesichert wird. Diese Odyssee, welche die Patienten durchleben, kann oft sogar noch länger dauern. Eben weil viele Erkrankungen nicht vollständig erforscht sind, kann es lange dauern, bis die Erkrankung endlich diagnostiziert wird – und manchmal kann man überhaupt keine sichere Diagnose stellen.

Eine seltene Erkrankung kann jeden von uns treffen.Prof. Dr. Mark Berneburg, Sprecher des ZSER

Wann kontaktiert man das ZSER?Der Impuls, sich an ein Zentrum zu richten, sollte erfolgen, wenn die regulären Anlaufstellen oder selbst spezialisierte Ärzte in Krankenhäusern oder Universitätsklinika vor Ort keine sichere Diagnose stellen können.

Hier arbeiten 19 Fachdisziplinen zusammen. Was bringt die interdisziplinäre Zusammenarbeit?Seltene Erkrankungen betreffen oft nicht nur ein Organ, sondern sie sind meist auch – wegen der zugrundeliegenden Genetik – Multisystemerkrankungen und betreffen verschiedene Organe oder Organbereiche. Da die Menschen an den verschiedenen Auswirkungen in den verschiedenen Organen leiden, macht es Sinn, zusammenzuarbeiten. Und damit nicht ganz isoliert nur ein Teil der Erkrankung beleuchtet wird, sondern sich die Spezialisten zusammenschalten.

Wie läuft das Zusammenspiel ab?Wir haben eine Anlaufstelle: die Lotsin. An sie können sich Ärzte und Patienten wenden, wenn der Verdacht einer seltenen Erkrankung besteht. Sie hat eine Übersicht über die Erkrankungen, mit denen sich die Spezialisten hier auskennen und wo sie Hilfe anbieten können. Kann man das direkt zuordnen, ist es einfach. Manchmal funktioniert das aber nicht. Dann macht es Sinn, dass die Lotsin nach dem Ausfüllen eines Fragebogens, der mittlerweile standardisiert verwendet wird, sich noch einmal mit einer ärztlichen Koordinatorin bespricht, die sich dann in Rücksprache mit dem Zentrumssprecher die verschiedenen Symptome genau anschaut. Ist das immer noch nicht zielführend, also kann man immer noch nicht sagen, woran dieser Mensch leidet, dann wird der Fall in einer interdisziplinären Fallkonferenz besprochen.

Wurde am ZSER schon eine bisher unbekannte seltene Erkrankung festgestellt?Dass Erkrankungen neu gefunden werden, hat hier schon oft stattgefunden. Tatsächlich gibt es Bestrebungen, diesen Weg auch zu gehen, um unbekannte Erkrankungen neu aufzuklären. Hier kommt wieder die Genetik ins Spiel: Wir untersuchen diese Menschen im Erbmaterial und können vielleicht Mutationen finden, die vorher bislang nicht bekannt sind. Dann können wir sagen: Hier ist eine neue Erkrankung mit einer neu entdeckten genetischen Veränderung, die eventuell die Ursache ist.

Denken Sie, dass es diese Krankheiten früher schon gegeben hat und sie mangels intensiver Forschung nicht aufgekommen sind, oder kommt das mit der Zeit?Da gibt es tatsächlich alle Varianten. Es gibt die Variante, dass eine Erkrankung einfach noch nicht erforscht war und deswegen nicht geklärt werden konnte. Es gibt die Variante, dass man durch den Fortschritt der Forschung Erkrankungen, die man früher unter einem großen allgemeinen Sammelbegriff hatte, jetzt besser versteht und man auch sagen kann, dass das etwas anderes ist. In diesem großen Sammeltopf gibt es Unterschiede.

Am Uniklinikum werden seltene Erkrankungen beforscht. Wie sieht dieser Forschungsbereich aus und welche Ergebnisse gibt es seit der Gründung 2014?Hier arbeiten mittlerweile 19 Institute mit sehr verschiedenen Spezialisten, die zum Teil Weltruf haben. Diese betreuen mehr als 50 verschiedene Erkrankungen. Da gibt es einen ganzen Blumenstrauß an seltenen Erkrankungen. Wir haben keine echten Schwerpunkte. Wir haben Augenerkrankungen, wo an der Netzhaut geforscht wird und bereits wichtige Erkenntnisse gefunden wurden. Wir haben Stoffwechselerkrankungen – zum Beispiel bei der Galle, wo Menschen Störungen an der Gallenproduktion und deren Abfluss haben –, Erkrankungen des Gefäßsystems und der Haut. Wir haben genetische Erkrankungen und Erkrankungen aus dem blutbildenden System und viele mehr.

Mittlerweile fördert das Bundesministerium für Gesundheit die seltenen Erkrankungen. Was wünschen Sie sich diesbezüglich auf Deutschland- und EU-Ebene?Es gibt schon recht lange Förderprogramme des Bundesministeriums. Das sind aber nur sehr wenige Krankheitsbilder, die in den Genuss einer solchen Förderung kommen. Das ist sehr selektiv, sehr kompetitiv. Da wünscht man sich, dass viel mehr Menschen mit einer seltenen Erkrankung in den Genuss kommen, dass man Forschung effektiv betreiben kann. Zudem ist eine gute Vernetzung der Zentren untereinander sehr wichtig. Da gibt es derzeit Initiativen auf EU-Ebene, die sogenannten europäischen Referenznetzwerke, wo Spezialisten zu verschiedenen Bereichen sich vernetzen, um zusammenzuarbeiten. Das ist eine gute Entwicklung, aber das sind erst Anfänge. Will man den Menschen flächendeckend helfen, muss das viel breiter werden. Und es muss auch in der Gesellschaft ankommen, dass es viele Menschen gibt, die an einer seltenen Erkrankung leiden. Deshalb gilt der Satz: Je mehr Menschen sich um seltene Erkrankungen kümmern, desto besser.

Die Pharmaindustrie sieht die Entwicklung von Medikamenten in dieser Sparte eher als nicht lukrativ an. EU-Parlament und -Rat haben eine Verordnung für die sogenannten „Orphan Drugs“ erlassen. Hat sich seitdem etwas verändert?Es hat sich etwas verändert, aber sehr langsam. Da passiert nicht in der Breite etwas, dass es vielen Erkrankungen den Durchbruch bringen würde. Die EU hilft sehr bei der schnelleren Zulassung von Medikamenten für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Da ist der Zulassungsweg deutlich vereinfacht. Aber natürlich gibt es das nur bei den Erkrankungen, wo es einen konkreten Hinweis gibt, dass das entsprechende Medikament helfen könnte. Es gibt Förderprogramme, die ermöglichen, dass Medikamente, die bei einer Krankheit bereits sinnvoll eingesetzt wurden, auch bei anderen Erkrankungen zugelassen werden können, das nennt man „Drug-Repurposing“. Das sind aber alles Einzelfälle. Da wir aber von 7000 bis 8000 Erkrankungen sprechen, können Sie sich sicherlich vorstellen, wie wichtig, aber auch aufwendig es ist, für möglichst viele dieser Erkrankungen Ursachenforschung und Behandlungsstudien durchzuführen...

Der Text ist eine Leseprobe aus der Sonntagszeitung, die die Mittelbayerische exklusiv für ePaper-Kunden auf den Markt gebracht hat. Ein Angebot für ein Testabo der Sonntagszeitung finden Sie in unserem Aboshop.