Nachruf
Gustav Obermair war seiner Zeit voraus

Der als „Roter Rektor“ bekannte Physiker leitete die Regensburger Uni von 1971 bis 1973. Er engagierte sich gegen die WAA.

09.10.2019 | Stand 16.09.2023, 5:27 Uhr
Harald Raab

Rektor Gustav Obermair nach seiner Wiederwahl im Juni 1972 Foto: Stadt Regensburg, Bilddokumentation

Für die einen war er der „rote Rektor“ der jungen Regensburger Universität, dem man zutraute, die Revolution im Schilde zu führen. Für die anderen war er Lichtgestalt und Galionsfigur bei der erhofften Fahrt in eine antiautoritäre Zukunft. Beide Klischees werden dem Physiker, Hochschullehrer und gesellschaftspolitischen Aktivisten Gustav Maximilian Obermair nicht gerecht. Er ist jetzt in seiner Wahlheimat Namibia mit 85 Jahren gestorben.

Auch die Klassifizierung als aufrechter Demokrat trifft nur einen Aspekt dieser komplexen Persönlichkeit. Er war im vollen Umfang einer, der im kant’schen Sinn das „Abenteuer der Vernunft“ gewagt hat, freilich mit Engagement, kein Ideologe, aber ein Idealist und in seinen Einstellungen, seiner Weltsicht der Zeit weit voraus. Er war ein Mensch einer kommenden Epoche, die spätestens jetzt anbrechen muss, um der Weltkatastrophe gerade noch zu entkommen.

Das Münchner Umfeld prägte ihn

Wenn der Begriff der Liberalitas Bavariae nicht so abgegriffen wäre, könnte man ihn auf das Münchner Umfeld anwenden, in dem Gustav M. Obermair groß geworden ist. Seine Kultiviertheit, seine großbürgerliche Höflichkeit, seine Sensibilität, auf Menschen eingehen zu können, sind ihm hier grundgelegt worden.

Lange bevor er mit 18 Jahren sein Studium an der Ludwigs-Maximilian-Universität in seiner Geburtsstadt begonnen hat, wusste er, dass Physik sein Lebensthema ist. Der Drang, zu erforschen, was die Welt im Innersten zusammenhält, führte ihn darüber hinaus. Soziologie und Philosophie haben seinen Horizont erweitert und zeitlebens seinem Handeln Ziel und Fundament gegeben.

Beachtliche Karriere in den USA

Hervorragende Hochschullehrer wie die Physiker Walter Gerlach, Fritz Bopp und Walter Rollwagen förderten bei dem jungen Studenten die Faszination für das Fach in seiner ganzen Breite. Obermair entschied sich letztlich für die theoretische Physik. Nach der Promotion wechselte er für vier Jahre an die TU München. Dort lernte er den amerikanischen Physiker Gregory Wannier kennen, der ihn 1967 als Post Doctoral Fellow an die Universität Oregon holte. Es folgte eine beachtliche Karriere in den Staaten, die 1970 mit einer Associate Professur an der University of Pittsburgh ihren Abschluss fand. Die Erfahrungen im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb mit ausgeprägter Teamarbeit, flachen Hierarchien und pragmatischer Interdisziplinarität haben den jungen deutschen Wissenschaftler nachhaltig geprägt.

1970 erfolgte die Berufung auf einen Lehrstuhl für theoretische Physik an der wenige Jahre zuvor gegründeten vierten bayerischen Landesuniversität, in Regensburg. Genau in der Zeit, in der Deutschlands Hochschulen in einem Gärungsprozess waren. Die alte Ordinarienherrlichkeit wankte. Die Studierenden wollten Mitbestimmung über Forschung und Lehre. Man positionierte sich mehrheitlich links, wollte raus auf die Straße und der Politik der Altvorderen in die Parade fahren.

Die Achtundsechziger Bewegung hat auch in Regensburg, mit etwas zeitlicher Verzögerung, ihre Wellen geschlagen. Vorlesungen wurden bestreikt, das Rektorat mit Sit-ins blockiert. Diverse K-Gruppen rangen mit ihren Pamphleten um Deutungshoheit, was der ideologiegerechte Weg zu einer neuen Universität und gleich der ganzen Gesellschaft wäre.

Der AStA wurde zu einem starken Hebel, um Studenteninteressen – oder was dafür gehalten wurde – durchzusetzen. Joseph Ratzinger, der spätere Papst, hatte sich vom turbulenten Tübingen nach Regensburg abgesetzt, in der Hoffnung, hier von aufmüpfigen Studenten in Ruhe gelassen zu werden. Die wurde dem konservativen Fundamentaltheologen aber auch an der Donau nicht gegönnt.

Überraschende Wahl zum Rektor

Die Studierenden und das wissenschaftliche Personal hatten in den Leitungsgremien viel zu sagen. Auf je zwei Professoren kamen im Senat ein Studentenvertreter und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Mit nur einer Stimme Mehrheit wurde der 36-jährige Physiker Obermair 1971 überraschend zum Rektor gewählt. Für den Bayernkurier, dem Kampfblatt der CSU, stand „eine Umfunktionierung der Universität Regensburg in eine sozialistische Kaderschmiede“ unmittelbar bevor. Die bürgerlich-liberale ZEIT titelte: „Marx im Bayerischen Wald“, auf den damals ungewöhnlich üppigen Bart des Jung-Rektors anspielend. Bis 1973 bekleidete Obermair das Amt. Rückblickend zog er ein ernüchterndes Fazit: Die Handlungsfreiheit zwischen konservativem Professorenflügel und dem Ministerium sei begrenzt gewesen.

Außenwirkungen waren jedoch zweifellos vorhanden, positive und negative. Der Physiker engagierte sich gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Dass dieses Monster nahezu einhellig von der Bevölkerung abgelehnt wurde, ist mit ein Verdienst der unermüdlichen Aufklärungsarbeit Gustav Obermairs: Kernenergie ist keine menschengerechte Technologie. Dass das bayerische Hochschulgesetz verschärft wurde, ist nicht zuletzt der panischen Angst vor solchen unbotmäßigen Persönlichkeiten wie ihm geschuldet.

In der wissenschaftlichen Community war der Regensburger Professor mit dem linken Ruf exzellent vernetzt. Er genoss mit seiner breitgefächerten Grundlagenarbeit Ansehen – etwa zur „Quantentheorie quasiperiodischer Systeme“ oder zur „nichtlinearen Dynamik und Chaos“. Über 30 Jahre wirkte er an seinem Lehrstuhl an der Regensburger Universität. Als Lehrer pflegte er einen Umgang auf Augenhöhe. Die schönste Bestätigung kam von einem Studenten, der ihm sagte: Er habe in der Prüfung so viel gelernt wie in einem ganzen Semester.

Buch zur gerechten Besteuerung

Nach seiner Emeritierung 2002 widmete sich Gustav Obermair verstärkt wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen. Er beleuchtete die Energiepolitik in Deutschland kritisch und schrieb auch mit Professor Lorenz Jarass ein Buch zur gerechten Besteuerung. In Namibia war er im Vorstand der Wissenschaftlichen Gesellschaft Swakopmund aktiv.

Ein erfülltes Leben ist zu bilanzieren. Auch die Regensburger Universität realisiert nach gebührendem Abstand, dass Obermaiers Widerständigkeit gegen bis dahin unhinterfragte Autoritäten, Machtstrukturen und Abhängigkeiten dem Ansehen der Institution gut ansteht.

Ausbildung:Professur:
Studium der theoretischen Physik an der LMU München, Promotion an der TU München, Wechsel in die USA, dort zuletzt Associate Professur an der University of Pittsburgh1970 Berufung an den Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Regensburg, 1971 Wahl zum Unirektor (bis 1973), Emeritierung 2002, Vorstand der Wissenschaftlichen Gesellschaft Swakopmund in Namibia

Wären Obermairs Positionen vor einem halben Jahrhundert zum Tragen gekommen, würden wir heute nicht in der Klimakrise stecken und die Gesellschaft wäre ein Stück solidarischer. Wusste er doch, was sein großer Fachkollege Albert Einstein postuliert hat: Mit alten, verkrusteten Denkmustern sind neue Probleme nicht zu lösen – es hat ja schon bei den alten nicht geklappt. Die Welt zu einem besseren Ort zu machen – in den großen und in den kleinen Dingen –, das war sein Anliegen. Wissenschaft wollte er nicht als Selbstzweck und Dienstbarkeit für herrschende Machtinteressen betrieben sehen. Die moralische Verantwortung der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gegenüber der Gesellschaft, die sie alimentiert, war ihm enorm wichtig.

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