Doppel-Interview
„Putin will uns schwächen“: Landtagspräsidentin und Regensburger OB in Sorge um Demokratie

20.09.2022 | Stand 15.09.2023, 3:36 Uhr
Setzen nicht nur in Krisenzeiten aufs Zuhören: (v.l.) Ilse Aigner (CSU) und Gertrud Maltz-Schwarzfischer (SPD) warnten an einem historischen Ort der Demokratie – dem Reichssaal. −Foto: altrofoto.de

Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) und die Regensburger Oberbürgermeisterin Gertrud Maltz-Schwarzfischer (SPD) gehören zwar unterschiedlichen Parteien an. Doch eine Sorge verbindet die beiden Frauen. Sie fürchten, dass die Demokratie wegen schwerer Angriffe von innen und außen Schaden nimmt. Darüber sprechen sie in unserem Doppel-Interview.



Lassen Sie uns an diesem geschichtsträchtigen Regensburger Ort über die Gefahren für die Demokratie reden: Der Immerwährende Reichstag gilt als Vorläufer der deutschen Parlamente, der EU und der UNO. Frau Aigner, Sie warnten kürzlich hier bei der Enthüllung eines Denkmals, dass die Demokratie immer mehr im Feuer steht. Was sind Alarmzeichen?

Landtagspräsidentin Ilse Aigner:Ich merke seit längerem, dass die Demokratie von innen wie von außen im Feuer steht. In Deutschland werden die Pandemie, aber auch der Ukraine-Krieg und die Inflation von einigen Kräften genutzt, um den Staat anzugreifen. Von außen wird alles noch befeuert, ganz konkret von Putin und seiner Propagandamaschinerie. Es wird versucht, die Demokratie madig zu machen.

OB Gertrud Maltz-Schwarzfischer:Es gibt inzwischen ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber städtischen und staatlichen Organisationen. Alles war wir sagen, wird zunächst angezweifelt. In der Pandemie hat sich das mit der Einschränkung der Grundrechte deutlich verstärkt, obwohl klar war, dass das so sein muss, weil wir bedroht gewesen sind. Es gab anfangs keine Impfung, keine Medikamente. Wir mussten befürchten, dass das Gesundheitssystem zusammenbricht.

Haben Sie eine Erklärung, weshalb die Propagandamaschinerie Putins im Westen so erstaunlich erfolgreich ist?

Aigner:Eine einfache Erklärung gibt es nicht. Es ist wohl auch ein wenig die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Es herrscht die Vorstellung, wenn wir mit Russland wieder „gut sind“, wäre die Sache gelöst. Doch Putin führt nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine, sondern ganz gezielt auch gegen uns. Er verachtet uns und unsere Demokratie und will uns schwächen.

Maltz-Schwarzfischer:Man glaubt ja nicht Putin, sondern den Menschen in der Blase, in der man sich bewegt: Die Botschaften werden in sozialen Netzwerken über Fake-Personen transportiert, die vermeintlich unsere Nachbarn sein könnten. Sie erzählen Geschichten, die ebenfalls erfunden sind. So entstehen Scheinwirklichkeiten. Die Menschen, bei denen das gut verfängt, spüren in ihrem Leben oft große Hilflosigkeit. Sie fühlen sich abgehängt oder fürchten, abzurutschen.

Das klingt düster. Haben Sie Angst vor dem Winter? Ist es wirklich unausweichlich, dass Energiekrise und Nachwirkungen der Corona-Jahre die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht bringen?

Aigner:Das darf man auch nicht herbeireden. Das ist ja genau das, was gerade manche politische Gruppierungen von links wie rechts versuchen. Sie brauchen immer ein Thema, um Menschen Angst zu machen. Umso wichtiger ist es, dass in der Energiepolitik jetzt die nötigen Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Da ist schon viel passiert – das sage ich ausdrücklich - aber noch nicht genug. Und wir sollten alles unterlassen, was spaltet – dabei auch die Ideologien beiseite lassen, um Kompromisse zu finden für die drängenden Probleme. Das erwarten die Menschen jetzt von uns.

Maltz-Schwarzfischer:Ich glaube, wir müssen vor allem auch den Gemeinsinn stärken. Egal, welche politische Ausrichtung wir haben: Wir sind eine Gemeinschaft, die durch eine katastrophal schwierige Zeit muss. Wenn wir nicht zusammenstehen, werden wir das nicht schaffen. Auch die, die sich die höheren Energiepreise leisten können, leiden, wenn die Gesellschaft zerfällt oder Arbeitsplätze wegbrechen.

Sie beschreiben Ungewissheiten als Gift für die Demokratie. Schwindet auch deshalb Rückhalt, weil heute weniger Menschen hinnehmen wollen, dass in der Demokratie Mehrheiten zählen. Bürger leben immer individueller. Als gute Politik gilt oft nur noch, was dem persönlichen Lebensmodell dient.

Aigner:Das haben wir gerade in der Pandemie erlebt. Grundsätzlich wird es die Politik nie allen hundertprozentig recht machen können. Demokratie bedeutet das Bestmögliche für möglichst viele. Aber das ist immer eine Abwägung. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich manche nach einer starken Hand sehnen – aber natürlich nur nach der starken Hand, die ihre eigene Meinung vertritt.

Maltz-Schwarzfischer:Kompromisse sind das Wesen der Demokratie. Die Geschichte zeigt, dass wir damit immer am besten gefahren sind. Wenn man aber nur in der eigenen Blase diskutiert und bei politischen Entscheidungen vermeintlich nie das herauskommt, was man sich gewünscht hat, ist es für manche schwierig, das zu akzeptieren.

Ein Teil der Bürger wittert inzwischen hinter jeder Ecke eine Verschwörung. Haben Sie beide eine Idee, wie sich wieder neues Vertrauen aufbauen lässt?

Maltz-Schwarzfischer:Das ist schwierig. Aber ich gebe nie auf. Ich spreche mit den Menschen und versuche, durch konkretes Handeln zu überzeugen. Wir müssen glaubwürdig und sichtbar bleiben, wir müssen erklären, was wir tun und warum wir es tun. Wir müssen auch ehrlich sagen, was wir nicht lösen können. Etliche mögen uns vielleicht nicht mehr zuhören. Es gibt aber immer auch welche, die es dann doch wieder tun.

Aigner:Es gibt Menschen, die sind so weit in ihren Blasen verfangen, dass ich nicht mehr an sie herankomme. Aber es gibt auch ganz, ganz viele, die verunsichert sind und Fragen haben. Ihnen muss man einfach zuhören. In der Coronakrise bin ich einmal mit dem Radl zu einer verzweifelten Almwirtin gefahren und habe gesagt: Jetzt können wir reden. Ich glaube, dass das geholfen hat. Aus diesem Grund kommt der „Landtruck“ des Landtag auch in alle Regierungsbezirke. Das Landtagspräsidium und Abgeordnete aller Fraktionen machen damit vor Ort ein Angebot, ganz einfach auf den Marktplätzen ins Gespräch zu kommen.

Sie haben beide persönlich gröbste Anfeindungen von Wutbürgern erlebt. Wie gut können sie das wegstecken?

Maltz-Schwarzfischer:Es ist schon schwer. Aber ich bin ja nicht alleine: Ich bin mit anderen Bürgermeistern oder Landrätinnen im Gespräch, denen es ähnlich geht. Da relativiert sich alles wieder. Ich sehe es weniger persönlich, sondern auf mein Amt bezogen. Mich trifft es halt, weil ich als OB Dinge aus tiefster Seele vertrete: Dass Muslime das Recht haben, eine Moschee zu bauen oder man Flüchtlingen helfen muss,

Aigner:Ich habe gelernt, ähnlich zu differenzieren: Geht es um mich als Person oder um das Amt? Bei Auftritten in der Öffentlichkeit habe ich den großen Luxus, dass ich vom Landeskriminalamt geschützt werde. Diesen Schutz haben Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker nicht. Das macht mir sehr große Sorgen. Denn sollten sie sich wegen der Anfeindungen irgendwann nicht mehr bereiterklären, sich für ihre Stadt, ihre Gemeinde oder ihren Landkreis einzusetzen, geht uns das Wurzelwerk der Demokratie verloren.

Sie sind beide seit Jahren in der Politik: War es früher wirklich einfacher? Selbst am Immerwährenden Reichstag gab‘s im 17. und 18. Jahrhundert Kritik: Man spottete über lebensferne Politik am „grünen Tisch“ oder Dinge, die „auf die lange Bank“ geschoben werden.

Maltz-Schwarzfischer:Die Demokratie musste schon immer verteidigt werden. Jetzt gerade allerdings sehr viel häufiger und stärker. Es gibt weltweit Rückschläge, nehmen wir als Beispiel die USA. Dort steht die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch völlig in Frage. Oder nehmen Sie den Brexit oder das, was in Ungarn passiert.

Aigner:Ich meine nicht, dass früher alles einfacher war. Das fängt schon damit an, dass wir zwei Frauen vor 50 Jahren nicht die gleichen Möglichkeiten wie heute gehabt hätten. Die breite Bevölkerung ist in den Parlamenten jetzt ganz anders abgebildet. Es wird heute auch transparenter diskutiert, was früher am „grünen Tisch“ beraten worden ist.

Gegenwind erhält die Demokratie aktuell nicht nur aus russischen Trollfabriken. Es gibt auch berechtigte Kritik an politischen Entscheidungen, bei denen qualitativ Luft nach oben ist. Hätten Sie gute Ratschläge?

Maltz-Schwarzfischer:Erst einmal sollte sich die Sprache verändern: Verwaltungen und Behörden haben oft eine Sprache, die keiner versteht. Aus meiner kommunalen Warte kann ich sagen: Ganz oft werden auch vom Freistaat Dinge beschlossen, bei denen man sich offensichtlich nicht überlegt hat, wie man das überhaupt umsetzen kann. Beispiel sind Luftfilter für Schulen, die in der Corona-Zeit sofort angeschafft werden sollten. Dabei sind wir zur europaweiten Ausschreibung verpflichtet.

Aigner:Das gleiche Problem haben wir im Bund, wenn die Länder bei Entlastungspaketen zur Energiekrise nicht eingebunden sind. Bei der Sprache schließe ich mich an: Wir müssen komplex denken, aber einfach sprechen. Zur Politik gehört genauso eine Fehlerkultur: Menschen akzeptieren es, wenn man sagt: Unter damaligen Gesichtspunkten haben wir so entschieden – es wäre aber aus heutiger Sicht besser anders gelaufen.

Haben Sie beide eine Kern-Botschaft an Politik-Verdrossene – in einem kurzen Satz?

Aigner:Demokratie ist die beste Form, die es gibt, damit alle in Freiheit leben können.

Maltz-Schwarzfischer:Demokratie lebt vom Mitmachen, nicht vom Zuschauen, Demokratie braucht Streit und Debatten, denn – wie schon Bertolt Brecht sagte: „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“.

Das klingt deutlich danach, dass Sie beide nicht amtsmüde sind. Frau Maltz-Schwarzfischer, treten Sie bei der Kommunalwahl 2026 erneut als OB-Kandidatin an?

Ja, ja klar trete ich nochmal an. So, wie es jetzt ausschaut, bin ich motiviert. Aber das entscheide ich letztendlich gemeinsam mit meiner Partei rechtzeitig vor der nächsten Kommunalwahl.

Und bei Ihnen, Frau Aigner: Wären Sie nach der Landtagswahl gerne wieder Landtagspräsidentin oder noch lieber Ministerpräsidentin?

Am vergangenen Freitag bin ich mit 100 Prozent als CSU-Direktkandidatin für den Stimmkreis Miesbach nominiert worden. Das ist ein klarer Auftrag. 2023 müssen als erstes die Bürger ihre Wahl treffen. Wie es dann für mich weitergeht, entscheidet das Parlament.

Zur Info

Ilse Aigner:Die CSU-Politikerin ist seit 2018 Landtagspräsidentin und macht sich immer wieder deutlich für demokratische Werte stark. Zum Lebensweg: Die 57-Jährige hat in jungen Jahren eine Ausbildung zur Elektrotechnikerin absolviert und vor ihrer ersten Wahl in den Landtag 1994 bei Eurocopter gearbeitet. Wichtige Stationen ihrer politischen Karriere: Von 2008 bis 2013 war sie Bundeslandwirtschaftsministerin, von 2013 bis 2018 bayerische Wirtschaftsministerin.

Gertrud Maltz-Schwarzfischer:Die SPD-Politikerin wurde 2020 zur Regensburger OB gewählt. Das Rathaus kannte sie da schon gut: Seit 2014 war sie zweite Bürgermeisterin mit Schwerpunkt Soziales, hatte nach einer vorläufigen Dienstenthebung des früheren OB ab 2017 in Vertretung die Amtsgeschäfte geführt. Die 62-Jährige ist studierte Archäologin.

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