Kultur
Regensburg: Aufregende Angebote, um die Perspektive zu wechseln

08.09.2022 | Stand 15.09.2023, 3:44 Uhr
Johanna Kaljanac vor ihrem Kokon im Ausstellungssaal des Regensburger Kunst- und Gewerbevereins: Ihr Werk, ausgezeichnet als interessanteste Arbeit 2022, steht im Mittelpunkt der Jahresschau, die am 16. September eröffnet. −Foto: Marianne Sperb

Der Kunst- und Gewerbeverein hat ein dickes Paket fürs Kunstjahr geschnürt. Auftakt ist am 16. September mit der Vernissage der Jahresschau, im Mittelpunkt: ein Kokon von Johanna Kaljanac.

Das Kunstwerk des Jahres dominiert den Ausstellungssaal in der Ludwigstraße: Johanna Kaljanac setzt mit ihrer 3,40 Meter aufragenden Installation ein Ausrufezeichen in der Jahresschau. Ihr Kokon, an der Decke mit Metallkette fixiert, am Sockel mit Sandsäcken beschwert, lockt den Besucher näher, stellt ihm erst mal viele Fragen und gibt die Antworten nur Stück für Stück, im intensiven Umrunden und Erkunden preis.

Das Werk ohne Titel entpuppt sich als Hülle, als Nest, wie es die Natur schaffen könnte. Hier ist es für Menschen gestaltet, aus künstlichem Material. Johanna Kaljanac, Künstlerin und am Kunstinstitut der Uni Regensburg Lehrkraft für besondere Aufgaben, hat Folie von Supermärkten gesammelt und mit Heißkleber und Föhn geformt. Bitte eintreten! Drinnen im Dämmer ist der Mensch einerseits bei sich, andererseits aufs Draußen fokussiert, auf Durchblicke in der luftigen Plastikmembran. Die Installation stachelt zu einer Fülle von Deutungen an, philosophisch, psychologisch, auch gesellschaftskritisch. Das Plastik erinnert uns an die vermüllten Meere und die Konstruktion wirkt fragil, erweist sich aber als überraschend stabil, doch freilich: ein klimawandelbedingter Sturm könnte es jederzeit forttragen.

Geradezu symbolträchtig wirkt es, dass die Jury des Kunst- und Gewerbevereins für dieses Jahr Kaljanacs aufregendes Angebot zum Perspektivwechsel zur interessantesten Arbeit eines Künstlers unter 40 Jahren gekürt hat. Denn der Traditionsverein will sozusagen den Kokon verlassen: Mehr Wahrnehmung in der Breite, mehr jüngeres Publikum steuert man an, erklärt Vorsitzender Georg Haber am Dienstag. Die Institution, im Jahr 1838 verwurzelt und einer der ältesten Kunstvereine bundesweit, will deutlicher unterstreichen, dass hier Tradition und Avantgarde ein Paar sind, sagt Toni Kobler vom Ausstellungsausschuss.

Den Beleg, wie offen der Verein für Kunst am Puls der Zeit ist, tritt ab 16. September die Jahresschau an, die 96. bereits. Hier kann, auch das eine stolze Besonderheit, jeder Mensch einreichen, studierter Künstler, beseelter Autodidakt oder ambitionierter Kunsthandwerker – und die Kreativen tun es reichlich. „Wir haben immer an die 180 Einsendungen“, sagt Kobler, und viele Kandidaten bieten mehrere Werke an.

Früher machte der Verein die Auswahl unter sich aus, seit 2012 kuratieren externe Juroren. Als die Platzhirsche nicht mehr zum Zug kamen, gab es einen Aufschrei, erinnert Haber, und eine Austrittswelle. „Aber alle sind wieder zurückgekehrt.“ Dass der Verein nicht im eigenen Saft schmort und Transparenz zählt statt Privilegien, belegt Kobler am eigenen Beispiel: Er hatte unter Pseudonym eine Arbeit für die Schau eingereicht – und flog raus. „Ausjuriert werden heißt nicht, dass die Kunst nicht gut genug wäre“, wirbt er um Verständnis bei enttäuschten Bewerbern. „Das heißt einfach, dass sie nicht zum Ausstellungskonzept passt.“

Der Verein hat am Dienstag für die Journalisten ein dickes Paket geschnürt: Auf die Jahresschau, die umfassenden Eindruck vom Kunstschaffen der Region schenkt, folgt ab 29. Oktober ein Blick auf die eigene Sammlung, in der sich die außergewöhnliche Vereinsgeschichte spiegelt. Drei spannend klingende Doppel-Ausstellungen bestreiten das Programm bis April 2023.

„Es geht um die Magie der Kunst. Das nimmt dieser Preis ernst“: Schriftstellerin und Patin Eva Demski umriss so den Kern eines Projekts, das der Verein seit 2009 pflegt. Er rückt mit dem Kunst.Preis Werke von geistig behinderten Menschen ins Licht. Oft sind schon die Titel inspirierender als manche akademische Arbeit: „Mein Traum vom fliegenden Spiegelei“ hieß etwa ein Bild bei der letzten Schau, 2020. 2022 startet die Ausstellung am 22. April.

Max Wissner, heimlicher Lieblingskünstler der Regensburger, ist die Sommerschau ab 17. Juni gewidmet. Der Kenner Stefan Reichmann breitet zum 150. Geburtstag den ganzen Wissner-Kosmos aus: Gemälde, auch noch nie ausgestellte, Illustrationen, Kunstgewerbliches und Gedichte. Sogar ein eigens geschriebenes Puppenstück wird aufgeführt. Die breite Wahrnehmung, die sich der Verein wünscht: Sie dürfte ihm sicher sein.