Jahrestag
Regensburger überlebte Anschlag

„Gruß aus Nizza. Ich lebe.“: Berufspilot Thomas Sachse ist ein Überlebender des Lkw-Anschlags auf der Promenade des Anglais.

14.07.2018 | Stand 16.09.2023, 6:05 Uhr
Helmut Wanner

Thomas Sachse im Goldenen Kreuz in Regensburg: Zwei Jahre nach dem islamistischen Attentat spricht der 35-Jährige über das schrecklichste Erlebnis seine Pilotenlebens. Foto: Wanner

Es begann zu tröpfeln, als sie das Hotel verließen Richtung Promenade des Anglais, wo in dieser Donnerstagnacht halb Nizza den Nationalfeiertag feierte. Thomas Sachse dachte bei sich, „blöde Idee, da noch mal rauszugehen.“ Er ging mitten hinein in das verheerendste islamistische Attentat des Jahres 2016 mit 85 Toten und 434 zum Teil schwer verletzten Menschen. Heute gedenkt Frankreich wieder der Toten.

Der Berufspilot war nicht zum ersten Mal in diesem Hotel. Er hatte zu Abend gegessen und stand mit seinem Mojito in der Hand auf der Dachterrasse des AC Mariott mit Blick auf den Strand vonNizza, da meinte sein Co-Pilot, auf der Promenade wäre es schön, es spielen Bands, wie wäre es, sich vor dem Schlafen noch mal unters Volk zu mischen. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die Lobby und gingen das kurze Stück auf der Rue Honoré Sauvant Richtung Strandpromenade. „Wir waren gerade überm Zebrastreifen, da krachte es, so 30 Meter hinter uns. Wir hörten Schreie.“ Thomas Sachse wird dieses unbeschreibliche Krachen, diese Schreie, nicht mehr vergessen.

Der Lkw kam aus dem Nichts

Der weiße Lkw kam mit hoher Geschwindigkeit förmlich aus dem Nichts. Wie unvorbereitet die Menschen waren, beweist ein Amateurvideo auf Youtube: Auf einem Podium spielt eine Band, die Leute flanieren oder bleiben stehen. Alle wirken voll entspannt. Da kommt ein weißer Lkw ins Blickfeld. Plötzlich ist das Bild schwarz.

30 000 Menschen feierten am französischen Nationalfeiertag auf der berühmten Promenade an der Côte d‘Azur. Der Regensburger Thomas Sachse war an diesem Tag erst am Steuer des Privatjets Global Express gelandet. Er hatte seinen Auftrag erledigt, einen Geschäftsmann aus Moskau in seinen Zweit-Wohnsitz zu fliegen. Seine VIP-Charter-Firma, bei der er angestellt ist, nennt diese Art Passagiere „flying urban nomads“. Sie haben am Flughafen keine Wartezeit und reisen in 14 Meter langen Luxus-Kabinen mit 907 km/h um die Welt.

Der Absolvent des Gymnasiums Neutraubling ist deswegen ständig da, wo es schön ist. Auf den Malediven, den Seychellen, in Rom, Paris oder Nizza. Es scheint, dass dabei immer ein Schutzengel mitfliegt. „In Moskau war ich einmal nachts mit einer Gruppe unterwegs und wurde überfallen. Mein Kollege war nah am Rollstuhl und brauchte lange Zeit, sich zu erholen.“ Sachse passierte nichts.

Der Sohn eines Neurologen hat Nerven wie Drahtseile, er schildert den Ablauf des Nizza-Attentats bei einem Kaffee im Goldenen Kreuz äußerlich unbewegt. „Ich dachte erst, da hat jemand die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.“ Dann dachte er nicht mehr viel. Panik ringsumher. Thomas Sachse und sein Co-Pilot rannten um ihr Leben. „Da war so eine Betonwand, die die Promenade vom Strand abtrennt. Wir sind drübergestiegen und haben uns auf ein Blechdach eines Strandpavillons gerettet.“

Sachse sagt, man müsse in so einem Moment mit allem rechnen. Was kommt als nächstes? Jagt der Attentäter den Lkw in die Luft? Als er dann mit seinem Kollegen vom Dach stieg und zurück zu seinem Hotel rannte, sah er auf der Promenade viele Leichen und Verletzte. „Die Hotellobby war voll mit Leuten, die telefonierten, dass es ihnen gut geht. Viele haben geweint.“

Seine Freunde aus der Whats-App-Gruppe, die er „Kanu“ getauft hat, wegen einer Kanutour, die sie im versprochen haben, wunderten sich, als sie am 14. Juli 2016 um 22.43 Uhr die Nachricht auf dem Handy hatte. „Servus, mir geht’s gut. Ich lebe. Gruß aus Nizza.“ Teilweise hatten sie da noch gar nicht von dem verheerenden Anschlag erfahren und dachten im ersten Moment, es sei kein Wunder, dass es einem in Nizza nicht schlecht geht. Aufgrund der Nachrichten war den Freunden schnell klar: „Total verrückt“, „ein Wahnsinn diese Welt.“

Alles voll mit Merkel-Pollern

In dieser Nacht habe er nicht viel geschlafen. „Die ganze Nacht heulten die Sirenen und Hubschrauber waren in der Luft. Die Toten und Verletzten mussten abtransportiert werden.“ Am nächsten Morgen flog die Crew die VIP-Charter-Maschine wieder zurück.

Der 35-Jährige ist seit 12 Jahren Berufspilot. Seine erste Maschine flog er mit 15 Jahren in Obertraubling – ein Segelflugzeug. Sachse verbringt seine Freizeit meistens auf dem Flugplatz des Luftsportvereins Regensburgs im Frauenholz. Der Anschlag ist dem äußerlich immer coolen Berufspiloten freilich nahegegangen. „Ich habe danach viel mit Leuten darüber geredet.“ Dass er seine Erlebnisse jetzt erzählt, ist Aufarbeitung und auch eine Art des Gedenkens an die Opfer des Anschlags, den die Welt schon wieder fast vergessen hat.

Nizza heute sei nicht mehr das Nizza von vor 2016, meint Sachse. „Die Promenade ist heute voll mit Merkel-Pollern. Schwerbewaffnete der Nationalgarde patrouillieren immer noch.“ Der Überlebende des Anschlags achtete am Anfang auf der Straße auf jedes Fahrzeug, das ihm komisch vorkam.