Soziales
St.-Leonhard stärkt das Zusammenleben

Seit mehr als 130 Jahren hilft die Einrichtung Kindern. Das neueste Projekt: ein bayernweit einzigartiges Familien-Training.

03.02.2018 | Stand 16.09.2023, 6:10 Uhr

In den Wohngruppen des Sozialpädagoischen Zentrums St.-Leonhard finden Kinder aus Familien mit festgefahrenen Konflikten wieder Halt. Ein wichtiger Fixpunkt im Tagesablauf der Kinder: Das gemeinsame Mittagessen. Foto: altrofoto.de

Die Kinder wollen mit Daniela (Name geändert) ihren elften Geburtstag in der Tagesgruppe feiern und sie heult wie ein Schlosshund. Auf dem Tisch stehen Kuchen und Geschenk. Der Gesamtleiter von St.-Leonhard, Josef Parstorfer, ist verwirrt. „Was ist denn los?“, fragt er Daniela, die erst seit Kurzem in der Gruppe ist. „Es hat noch nie jemand an meinen Geburtstag gedacht“, erwidert sie gerührt.

Das Sozialpädagogische Zentrum St. Leonhard bietet Unterstützung und Hilfestellung für Familien – und zwar in zwei ganz unterschiedlichen Bereichen: In Hort, Krippe und Kindergarten, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Diese Kinderbetreuung hat mit dem Jugendamt bzw. mit Kindern aus schwierigen Familienverhältnissen überhaupt nichts zu tun. „Unser Kindergarten ist ein ganz normaler Kindergarten“, sagt Parstorfer. Der Kindertagesstättenbereich umfasst vier Kindergartengruppen á 25 Kinder, die Krippe mit 18 Plätzen und den Kinderhort mit 25 Plätzen.

Der zweite Bereich, der in der Öffentlichkeit meist eher mit der Einrichtung verbunden wird, ist der Erziehungshilfebereich. In den heilpädagogischen Tages- und Wohngruppen, geht es darum, Familien zu helfen, in denen es massive Schwierigkeiten gibt. Das Zusammenleben ist nicht immer einfach – das wissen alle Eltern. Und manche Eltern überfordert die Erziehung ihrer Kinder komplett. Sei es, weil sie selbst in ihrer Kindheit Schlimmes erfahren haben und damit nie gelernt haben, wie man richtig mit seinen Kindern umgeht, sei es, weil sie einfach zu jung waren, als sie ihr Kind bekommen haben und selbst noch keinen Halt im Leben gefunden haben.

Kindern ihre Kindheit zurückgeben

Bei den Kindern kann sich das ganz unterschiedlich auswirken: Manche reagieren vielleicht verhaltensauffällig und werden grundlos aggressiv, manche übernehmen zu früh zu viel Verantwortung, weil sie sich um ihre Eltern kümmern müssen. Ihre Kindheit bleibt auf der Strecke. „Da springen wir ein, entlasten die Familien und versuchen, den Kindern ihre Kindheit zurückzugeben“, sagt Parstofer. „Wir wollen sie unter anderem in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern. Ganz wichtig ist es auch, schulische Perspektiven – also Zukunftsperspektiven – zu schaffen.“

Unter den 72 Kindern, die im heilpädagogischen Bereich betreut werden, gibt es auch einzelne, die Missbrauch oder Gewalt erlebt haben, in den meisten Fällen kommen die Kinder aber in die Wohn- und Tagesgruppen, weil sich ihre Eltern nicht adäquat um sie kümmern. Die Jugendämter vermitteln dann einen Platz – fragen bei Einrichtungen wie St.-Leonhard an. „Seit Jahren ist der Bedarf an Plätzen in Wohngruppen sehr groß“, sagt Parstofer. „Meiner Ansicht nach nimmt die Zahl familiärer Konflikte aber nicht zu, sondern es wird – was absolut positiv ist – immer genauer hingeschaut. Probleme in Familien werden früher registriert.“

Als der Psychologe zu Sabine Dahlberger (Name geändert) zum Elterngespräch nach Hause kommt, läuft der große Flachbildfernseher, ihre zweijährige Tochter Ida sitzt davor. Der Psychologe bittet darum, das Gerät abzustellen, damit man sich besser unterhalten kann. Die Mutter erwidert: Das könne sie nicht machen, weil Ida sonst permanent schreie. Mit Geschichten wie dieser erklärt Parstofer, worum es in den heilpädagogischen Gruppen in St.-Leonhard geht, nämlich zunächst um die Grundlagen: „Dass man den Kindern wieder Halt und Struktur gibt und den Eltern vermittelt, dass es ihren Kindern guttut, gemeinsam eine Mahlzeit einzunehmen. Dass man abends was anderes macht, als vor dem Fernseher oder dem Smartphone zu sitzen.“ Eltern seien oft nicht in der Lage, das umzusetzen, weil sie es selbst nicht anders kennen.

Mindestens einmal im Monat gibt es gezielte Gespräche, in denen die pädagogischen Fachkräfte mit den Eltern besprechen, wie das Familienleben künftig besser gelingen könnte. Dabei geht es auch einfach darum, auf dem neusten Stand zu bleiben: Wie geht es den Eltern? Wie entwickelt sich ihr Kind in St.-Leonhard? Was hat das Kind für Noten? „Die Beziehung zu den Eltern muss man ganz hoch einschätzen“, sagt Parstorfer. „Sie sind immer die wesentlichsten Bezugspersonen. Daher ist es unser Ansatz, immer den Kontakt zu ihnen zu fördern.“

Das neueste Projekt von St.-Leonhard intensiviert das Familientraining, indem es eine umfassende praktische Variante ins Spiel bringt. In der Josef-Adler-Straße im Inneren Westen entstehen gerade zwei neue Häuser für Wohngruppen. Entworfen hat sie Facharchitekt Georg Kartini. Dabei ging er genau auf die Ideen von Parstorfer und seinen Mitarbeitern ein. Eine ganz zentrale Funktion nimmt nun eine – auf den ersten Blick unscheinbare – Einliegerwohnung im Keller eines der beiden Häuser ein.

Eltern üben Familienleben ein

Dort können Eltern ein paar Tage im Monat mit ihrem Kind, das normalerweise sein Zimmer in einer der Wohngruppen hat, zusammenleben. Die Eltern werden mit dem Kind vom Fachpersonal begleitet. Es geht dabei nicht um eine Therapie, sondern darum, die Basics – wie Familie konkret gelebt wird – zu trainieren: „Wie macht man mit dem Kind Hausaufgaben? Wie ist man auch mal konsequent mit ihm? Wir denken, dass wir Familien mehr helfen können, wenn wir das Zusammenleben vor Ort ganz anschaulich einüben können“, beschreibt Parstorfer. Zunächst setzt sich dazu vielleicht eine pädagogische Fachkraft mit der Familie hin und macht mit ihr einen Spieleabend. Dann gibt es für den nächsten Abend die Aufgabe, dass die Eltern das einmal selbst mit ihrem Kind versuchen und die Fachkraft nur noch präsent ist. Gleiches gilt für Aktivitäten wie zusammen Kochen oder Einkaufen. „Es geht darum, dass Eltern ihre Rolle als Eltern finden.“ Gleichzeitig werde so natürlich der Kontakt zwischen Kind und Eltern aufrechterhalten, unterstützt und gefördert.

Lesen Sie hier ein Interview mit Facharchitekt Georg Kartini zu den beiden neuen Häusern für Wohngruppen in der Josef-Adler-Straße.

Herzstück und Ursprungsort des Sozialpädagogischen Zentrums sind die Gebäude in der St.-Leonhards-Gasse. Dort sind die meisten Gruppen untergebracht. Daneben gibt es noch eine Tagesgruppe im Stadtnorden und eine in Neutraubling. Insgesamt werden rund 220 Kinder betreut. Träger der Einrichtung ist der St.-Leonhardi-Verein unter Vorsitz von Dr. Kurt Groh und Dr. Magdalena Helmig. Wenn die zwei Häuser in der Josef-Adler-Straße – voraussichtlich im September – fertiggestellt sind, wird eine der Wohngruppen dorthin umziehen. Eine weitere, neu gegründete, kommt im zweiten Haus dazu. Neun Kinder und Jugendliche leben jeweils in einer Gruppe zusammen. In der Regel sind jeden Tag zwei Fachkräfte für sie im Dienst.

Im Optimalfall können die Kinder irgendwann wieder in ihre Familien zurückkehren. Das funktioniert aber nicht immer. „Manchmal werden Kinder auch bei uns groß“, sagt Parstorfer. Wenn sie dann 16, 17 Jahre alt werden und vielleicht eine Ausbildung anfangen, lernen sie, allein in Wohnungen als junge Menschen unabhängig zu leben – der sogenannte Bereich des Innen- bzw. Außenbetreuten Wohnens.

Lesen Sie auch:Im Juni thematisierten die Kinder der Tagesgruppe Lukas das Problem Mobbing in künstlerischer Form. Das Ergebnis: ein Musical.

So manches Praktikum und so mancher Ausbildungsplatz wurde den Jugendlichen auch Dank der Verbindungen von Mitgliedern des Kinder- und Jugendfördervereins St. Leonhard vermittelt. Darin engagieren sich viele Personen – vor allem auch finanziell – mit dem Ziel, für die Wohn- und Tagesgruppen Dinge zu ermöglichen, die über die normalen Mittel des Zentrums hinausgehen. Dazu gehören bestimmte Therapien, Medikamentenzuzahlungen, Brillen oder Zahnspangen. Der Verein übernimmt außerdem Beiträge und Ausrüstung – wie etwa Fußballschuhe – für Sportvereine, in denen die Kinder sind. „Über den Verein können wir unterdessen auch gewährleisten, dass jedes Kind, wenn es hier aufgenommen wird, einen Schwimmkurs macht“, sagt Parstorfer.

Ganz viel erleben mit ganz viel Halt

Küche, Hausreinigung, Hausmeister, Verwaltung: Rund 75 Personen arbeiten für das Zentrum,das 2016 bereits sein 130-jähriges Jubiläum feierte. Ungefähr 50 davon gehören zum pädagogischen Fachpersonal. „Alle Mitarbeiter bringen ganz viel von ihrer Persönlichkeit ein. Sie gehen mit viel Herz an die Arbeit – auch dadurch ist die Atmosphäre wirklich sehr familiär“, sagt der Gesamtleiter. Mit einer Wohngruppe könne man die Geborgenheit und die Liebe, die Eltern geben können, nie ersetzen. Ziel sei es für die Mitarbeiter aber immer, dass sich die Kinder auf sie einlassen – sie das Gefühl haben, von ihnen angenommen zu werden. In der Leistungsgesellschaft bedeute Kind sein heute oft: verplant und eingeengt sein bzw. perfekt sein müssen, sagt Parstorfer. Er hat da eine ganz andere Vorstellung: „Frei sein, neugierig sein, ganz viel erleben mit ganz viel Halt – so wünsche ich mir Kind sein.“

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