Ukraine
Vor Bomben fliehen, von Liebe singen

19 Waisenkinder aus Odessa haben in Regensburg Zuflucht gefunden. Der Krieg hat Spuren bei ihnen hinterlassen.

26.03.2022 | Stand 15.09.2023, 6:22 Uhr
Space-Eye holte per Bus Geflüchtete aus der Ukraine ab - darunter 19 Waisenkinder aus der Regensburger Partnerstadt Odessa. −Foto: Sabine Franzl

Musik tönt aus den Lautsprechern des voll besetzten Busses. Kinderstimmen singen den passenden Text dazu. Sie singen über die Liebe. Und über Gott. Auf Ukrainisch. Würde man nur die Geräuschkulisse wahrnehmen, könnte es sogar fröhlich wirken. Doch blickt man in die Gesichter dieser Kinder, wird schnell klar: Fröhlichkeit sucht man hier, trotz des ein oder anderen scheuen Lächelns, vergebens. Ihre Blicke sind starr, gehen ins Leere, die Mimik wirkt vor allem bei den etwas älteren hart. Diese Kinder sind auf der Flucht. Vor Bomben, Krieg und Tod.

Zu diesem Zeitpunkt liegen noch etwa zehn Stunden der 2000-Kilometer-Busfahrt vor ihnen. Richtung Regensburg, Richtung Sicherheit, Richtung Hoffnung auf ein neues Leben. „Mit jedem Kilometer, mit jeder Stunde, die wir unterwegs waren, merkte man, dass die Anspannung, die innere Zerrissenheit abfiel und mehr und mehr der Gewissheit auf Hilfe wich“, sagt Sabine Franzl.

Waisen finden Obdach in Regensburg

Die Regensburgerin begleitete die Aktion von Space-Eye, bei der 57 Menschen aus der Region Odessa, darunter 19 Waisenkinder, nach Regensburg gebracht wurden. Sie haben vorerst im Kinderzentrum St. Vincent der KJF Obdach gefunden. „Einige bleiben in Regensburg, suchen eine Wohnung, für viele wird die Reise aber weitergehen“, sagt Sabine Franzl. „Zu Verwandten nach Leipzig, Österreich oder Kanada. Regensburg ist für sie nur Zwischenstation.“

Zwei Tage zuvor war selbst das für die meisten noch nicht vorstellbar. Sie saßen in Cantemir, einer Kleinstadt im Südwesten Moldawiens, etwa 250 Kilometer von Odessa entfernt und warteten in der Kirche von Pastor Kyrilo Bondarenko auf Hilfe. Er ist der Retter all dieser Menschen – dabei ist er selbst ein Geflüchteter und hatte eigentlich anderes vor. „Ich habe mich ganz am Anfang des Krieges als Freiwilliger zum Fronteinsatz gemeldet“, sagt der Ukrainer. „Aber sie haben mich nur als Reservist eingestuft. Ich konnte aber nicht einfach nichts tun. Deshalb versuche ich, jetzt so viele Menschen wie möglich zu retten.“ Das tat er anfangs noch in Odessa, doch dann musste er selbst fliehen, als die Frontlinie immer näher kam. Seitdem hilft er von Cantemir aus, wo er selbst Obdach fand.

Seit drei Wochen ist er nun Tag und Nacht im Einsatz, pendelt zwischen seinem Kirchenasyl und der moldawisch-ukrainischen Grenze. Meist alleine, unterstützt nur von freiwilligen ukrainischen und moldawischen Helfern. Eine Organisation oder koordinierende Hand im Hintergrund gibt es nicht, alles läuft bei Pastor Bondarenko zusammen. Auf seinem Handy, das quasi im Minutentakt klingelt.

Bondarenko: „Dann ist Odessa dran“

„Die Situation wird immer schlimmer“, sagt er. „Anfangs flohen die Menschen vor dem Gespenst des Krieges, jetzt fliehen sie vor den Bombeneinschlägen in ihrer Heimatstadt.“ Was er dann sagt, klingt zynisch. Odessa sei bisher von Artilleriebeschuss verschont geblieben, „und es haben nur zwei oder drei Raketen pro Tag eingeschlagen. Das ist aber nur deswegen so, weil die Stadt Mykolajiw noch stark umkämpft ist.“ Die 480.000-Einwohner-Stadt liegt knapp 100 Kilometer nordöstlich von Odessa, dort verläuft die Frontlinie. „Die Kämpfe dort sind heftig. Noch halten wir stand, aber wie lange noch. Wenn Mykolajiw fällt, ist Odessa dran“, sagt er. Dann werden Hunderttausende fliehen.

Anastasija (Name geändert) ist genau von dort geflüchtet, schildert unter Tränen: „Unsere Nachbarn sind bei einem Angriff gestorben. Erst da beginnt man wirklich zu verstehen, dass es einen am nächsten Tag selbst treffen kann. Man flieht – aber nicht zu Freunden oder Verwandten, sondern nach nirgendwo.“ Während Anastasija erzählt, bricht sie in Tränen aus. Kyrilo Bondarenko nimmt sie in den Arm, sie vergräbt ihr Gesicht in seiner Schulter.

Bondarenko hört solche Geschichten täglich. Das nagt an ihm. „Es ist brutal. Alles, was ich tun kann, ist ihnen in Cantemir ein Übergangsquartier zu geben, ihnen zu helfen, etwas Abstand zu gewinnen. Aber wie soll das möglich sein, wenn Verwandte und Freunde weiter mitten im Krieg stecken“, sagt er. Wirkliche Hilfe könnten nur Staaten wie Deutschland bieten. Deshalb versuche er, so viele Transporte wie möglich zu organisieren. Ohne Geld sei das mehr als schwierig, aber das habe er nun mal nicht.

Hilferuf:Wohnungen:Kontakt:
Der ukrainische Pastor Kyrilo Bondarenko rettet Menschen aus Odessa. Dafür hat er im moldawischen Cantemir einen Zufluchtsort geschaffen. Er hat aber kaum Mittel oder Fahrzeuge. „Wir brauchen hier alles: Lebensmittel, Hygieneartikel, Geld für Benzin oder Schlafsäcke. Auch wenn uns schon viel Hilfe, gerade auch aus Regensburg erreicht hat, es fehlt an allen Ecken und Enden.“ Vor allem aber suche er WLan-Router und Computer, um sich organisieren zu können. Bisher läuft alles über sein Handy.Die Regensburger Hilfsorganisation Space-Eye arbeitet mit Bondarenko zusammen, hat mehrere Hilfstransporte gemacht. Menschen aus dem Kriegsgebiet nach Regensburg zu bringen, reiche aber nicht, erklärt ein Space-Eye-Sprecher. Man brauche vor allem Wohnungen, um den Menschen Zuflucht zu geben.Wer Kyrilo Bondarenko helfen möchte, findet unter nachfolgender Internet-Adresse Informationen: space-eye.org/ukraine

Deshalb ist er auf Organisationen wie Space-Eye oder das Reise-Unternehmen Hauck aus Bodenwöhr angewiesen. Für das Unternehmen war es bereits der dritte Hilfstransport. Die drei Busfahrer machen es ohne Bezahlung, nehmen dafür sogar teils Urlaub. Bei der Hinfahrt werden Hilfsgüter mitgenommen, bei der Rückfahrt Menschen. „Doch leider ist ein Bus nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Sabine Franzl. In Chisinau, der zweiten Station neben Cantemir, warten rund 70 Menschen auf eine Mitfahrgelegenheit. „Mitnehmen konnten wir nur noch 38. Das bricht einem das Herz.“