Literatur
Takis Würger: Der Skandal in Person

Der Roman „Stella“ wurde von Feuilletons in der Luft zerrissen. Der Autor ist vorsichtig geworden. In Regensburg taut er auf.

22.02.2019 | Stand 16.09.2023, 5:41 Uhr

„Das ist vielleicht der schönste Schrank der Welt“: Takis Würger vor einem Wandschrank mit historischen Butzenscheiben in der Druckerei Pustet in Regensburg Foto: altrofoto.de

Takis Würger hat ein kleines Ritual. Auch in der Druckerei Pustet in Regensburg-Kumpfmühl vollzieht er seine, wie soll man sagen, Besinnungsübung, bevor er am Donnerstag auf das Podium steigt, beobachtet von 120, 130 Augenpaaren. Was in der Abgeschiedenheit eines Nebenraums jeweils vor seinen Lesungen abläuft, seit Wochen an beinahe jedem Abend, das muss geheim bleiben. Es könnte negativ ausgelegt werden.

Unverdächtig oder ungefährlich ist seit dem 11. Januar 2019 nichts mehr an dem, was Takis Würger tut, sagt oder schreibt. Seit dem Tag, an dem sein Buch „Stella“ erschienen ist, steht der 33-Jährige unter verschärfter Beobachtung. Sein Roman wurde in den großen Feuilletons in der Luft zerrissen und in den Boden gestampft. Ein falsches Wort, eine missverständliche Geste könnten neue Munition liefern.

Takis Würger braucht keine Bodyguards, wie eine der kursierenden Falschbehauptungen heißt, aber er ist vorsichtig geworden – einerseits. Andererseits stellt er sich in Regensburg offen den Fragen von Moderator Dieter Heß und von den Zuhörern und taut auf. Die Gäste sitzen in der Halle, in der Pustet „Stella“ und viele andere Hanser-Bücher gedruckt hat. In Grüppchen lassen sie sich an surrenden Bändern vorbei durch die Produktion führen, bevor sie den Stuhlreihen zustreben. Die Stimmung wirkt aufgekratzt. Schließlich: Takis Würger ist der personifizierte Literatur-Skandal. Gegen keinen anderen Schriftsteller seit langer Zeit wurde so erbittert, so persönlich geätzt.

Das Publikum trifft einen schlaksigen Zwei-Meter-Mann, der ernst und reflektiert wirkt. Takis Würger lässt sich Zeit, bevor er spricht. Manchmal beantwortet er Fragen mit eigenen Fragen. Nur: Zitierbare Interviews gibt er keine mehr. „Es ist so viel über den Roman gesprochen worden, ohne tatsächlich über den Roman zu sprechen, dass wir den Roman jetzt für sich sprechen lassen“, lautet die Begründung. Das Buch verändert sich nicht mehr – aber der Autor, der hat sich verändert.

„Du musst da durch“

Dass „Stella“ ein heikles Thema aufgreift, dass es Kritik geben könnte, das habe man bei Hanser vermutet. Dass die Reaktion vernichtend ausfallen könnte, habe man nicht für möglich gehalten, sagt Takis Würger. Er schildert, wie ihn die Verrisse verletzen, wie er zuerst die vor ihm liegenden 50 Lesungen absagen wollte. Sein Bruder, ein Psychologe und Trauma-Experte, mit dem er sich in Berlin die Wohnung teilt, ließ ihm das nicht durchgehen: „Du hast jetzt eine Sache zu tun: Du musst da durch.“

Worum geht’s? Takis Würger, Spiegel-Reporter und preisgekrönter Schriftsteller, der mit seinem Debüt „Der Club“ einen Überraschungserfolg gelandet hat, reist in seinem zweiten Roman in das Berlin von 1942. Friedrich (19), gelangweilter, naiver Sohn aus reichem Schweizer Hause, verliebt sich in Stella (20), eine Jüdin, die Juden verrät, vor allem, um ihre Haut und das Leben ihrer Eltern zu retten, aber vielleicht auch, um in Jazzclubs und Grandhotels weiter Champagner trinken und Pralinen knabbern zu können, die mit der Modedroge Pervitin getränkt sind.

Die Lovestory ist eine Ebene des Romans, eine zweite sind Notizen, die die Kapitel in Zeitgeschichte einbetten, in dieser Art: „In New York nehmen Bing Crosby und andere Musiker die Komposition White Christmas auf. Die monatliche Fettration wird von 1053 auf 825 Gramm gekürzt.“ Die dritte Ebene sind Zitate aus Prozessakten; Zeugen schildern, wie Nazis Juden verschleppen.

„,Stella’ spielt 1942, in einer Zeit, als es keine Meinungsfreiheit gab. Heute gibt es diese Freiheit. Sie ist kostbar, auch wenn sie verletzend ausfällt.“Takis Würger

Die Nazi-Greiferin gab es tatsächlich. Stella Goldschlag lieferte hunderte, kolportiert werden auch tausende von Berliner Juden an die NS-Mordmaschinerie aus. 1946 wurde sie zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Hier liegt die Tretmine, die Takis Würger um die Ohren fliegt. Die Shoa wird ausgebeutet, um Auflage zu machen, lautet der Kernvorwurf, ein zweiter: Eine Jüdin wird nicht nur als Opfer, sondern auch als Täterin gezeigt, und das in Zeiten, in denen Synagogen in Deutschland Polizeischutz brauchen. Kitschig, banal, oberflächlich, reißerisch, verharmlosend: so kurzweilig, so süffig dürfe man nicht über die Shoa schreiben, sagen die Kritiker. Und außerdem: Diese „Kinderbuchsprache“!

Inzwischen fordert ein Anwalt, 14 Stellen im Roman zu schwärzen, um Stella Goldschlags Rechte zu wahren. Inzwischen zeigen sich aber auch immer mehr Buchhändler öffentlich solidarisch mit Takis Würger. Einer mailte dem Autor: „Das halten wir jetzt zusammen aus.“ Die Leser halten sich eh’ nicht mit der von Feuilletons beanspruchten Deutungshoheit auf: Sie kaufen und kaufen und sind begeistert.

Was ist an der Kritik dran? „Stella“ liest sich geschmeidig in zwei, drei Stunden weg. Es packt einen, der Sog ist stark. Die Figuren bleiben tatsächlich blass. Die Sätze sind lakonisch und kurz. Das kann man simpel nennen, aber sehr gut auch ein Stilmittel, das die schlichte Sicht des jungen Friedrich spiegelt. Über die sprachliche Ästhetik des Romans mag man diskutieren, aber flach oder fahrlässig: das ist „Stella“ nicht. Die Ambivalenz von Leid und Schuld, von Opfern und Tätern, und die irrwitzigen Beziehungen, die sich im Irrsinn jener Zeit zwischen Juden und Nazis abspielen, sie lassen einem keine Ruhe. „Stella“ hallt nach.

Bleibt die Frage, ob Holocaust mit fiktiven Mitteln erzählt werden darf. Sie rührt im Grunde an die Haltungen von Elie Wiesel (Ein Roman über Auschwitz ist entweder kein Roman oder er handelt nicht von Auschwitz) und Imre Kertesz (Auschwitz kann man nur mit Mitteln der Literatur erzählen). Fiktion erzeugt Empathie. „Geschichte braucht Geschichten“, wie Sascha Feuchert (Arbeitsstelle Holocaust-Literatur, Uni Gießen) sagt. Wenn wir Literatur mit zu vielen Tabus umstellen, werde das Erzählen aufhören.

Takis Würger hat für „Stella“ gut zwei Jahre recherchiert, auch in Israel, bei dem Auschwitz-Überlebenden Noah Klieger. Sein nächstes Buch wird wieder ein jüdisches Leben behandeln, fiktionsfrei, als Sachbuch. „Auch wenn es Verrisse und Verletzungen gab: Es gibt keine Alternative dazu, dass auch meine Schriftsteller-Generation über die Shoa schreibt“, sagt er bei Pustet noch. Takis Würger wird dann wieder auf Lesereise gehen. Vielleicht gibt er dann sein geheimes Ritual preis.

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