Menschen
Gunther Zorn feiert „Goldene“

Der ehemalige Rektor begann 1964 mit der Erneuerung der Schul- und Kirchenmusik. Heute besingt er die Türme seiner Heimatstadt Straubing.

07.06.2014 | Stand 16.09.2023, 7:11 Uhr
Helmut Wanner

Die Kunst der Verführung: Der Pädagoge Gunther Zorn (749 hat Schülergenerationen zum Singen gebracht. Seine Höfner-Gitarre hat ihn dabei seit 1964 wie eine Freundin begleitet. Foto: Wanner

Als Feuerkopf wirkt Gunther Zorn erstaunlich ruhig. Der 74-Jährige hält seine Höfner-Schulgitarre im Arm wie eine Freundin. Musica bezeichnet der 50 Jahre verheiratete Mathe- und Musiklehrer als seine lebenslange Geliebte. Das Zimmer sendet die Botschaft Liebe. Die Sehnsucht danach ist sein Lebens-Thema.

Die Gitarre ist kein besonders wertvolles Instrument, aber Gunther Zorn geht schon seit 1964 mit ihr. Seit 1962 geht er auch mit Gudrun. Er hat die Lehrerkollegin bei Schallplattenaufnahmen des „Musica nova“-Chors in Oberammergau kennengelernt. Mit der Gitarre hat er über 10 000 Musikstunden gehalten. „Ich hab’s meistens singen lassen“, sagt der Musikrebell der 60er-Jahre. „Mit Singen kann man die jungen Leute fangen.“ Seine ehemaligen Schüler tragen noch heute die Lieder wie Ohrwürmer im Kopf herum. Sehen sie ihn auf der Straße, dann grüßen sie mit Liedanfängen wie „Jenseits der Täler“. Gunther Zorn lacht darüber und freut sich.

Zorns heilige Ordnung

Man hat den Eindruck: Zorns Zimmer hat schon gewartet; hier wurde nichts dem Zufall überlassen. Überall liegen Augenköder rum. Am Liebermannweg hat Gunther Zorn den Gast so platziert, dass ihm Franz von Stucks Mary auf ihrem roten Stuhl ins Auge sticht, das Plakat der Ausstellung „Kunst der Verführung“. Sein Blick fällt dann auf die LP eines christlichen Songwriters. Lenny LeBlanc hatte in den späten 70er Jahren den Hit „Falling“ gelandet. „I’m falling in love with you“.

Gunther Zorn hat einen Teil seiner Tagebücher aus 64 Jahren gestapelt, seine Kompositionen aus 50 Jahren fächerartig ausgebreitet, seine 2006 herausgekommene CD „Regensburg, du Stadt im Licht“ dazu gelegt. Auf dem Tisch liegen Fotos vom Leben eines Jazz-Bassisten (mit 18), eines Komponisten neuen geistigen Liedguts (ab 24), eines Chorleiters, Schriftstellers und ambitionierten Lehrers und Rektors (bis zu seinem Herzinfarkt 1996).

Das größte Format zeigt ihn in Schwarz-Weiß, 1949, von hinten, als Sprecher des Gelöbnisses von Hunderten Kommunionkindern in der Stiftskirche St. Jakob, Straubing. „Leiten und fördern, das war meine Berufung“, kommentiert der einstige Grundschul-Rektor das Bild.

Der ehemalige Mathe- und Musiklehrer hat diese Stunde akribisch vorbereitet. Im Rahmen seines Tagebucheintrags hat er sich am Vorabend bei einer frischen Halben aus Abensberg (sein Ritual) Gedanken und Materialien zurechtgelegt wie für eine Schulstunde. Dann ist er wie jeden Tag um 22 Uhr zu Bett gegangen, neben sich ein Blatt Papier und ein Diktiergerät für die Gedanken, die nachts ja unweigerlich kommen und raus müssen.

Der Autor schreibt gerade an einen Roman über die Straubinger Stadttürme. Man kann sie bei schönem Wetter wie Nadeln am Horizont aufragen sehen, wenn man über den Ziegetsberg stadteinwärts fährt. Ohne diese Türme würde Straubing aus Regensburger Sicht im Nichts des Gäuboden verschwinden.

Ordnung ist ihm heilig, Ordnung ist sein Heil. „Meine positive Unruhe braucht ein exaktes Gerüst, sonst würde ich zerfasern“, sagt er. Gunther Zorn hat sich die Regel selbst geschrieben, mit der er seine Aufwallungen eindämmt. Seine Lebensregel schreibt ihm einen ausgewogenen Lebensstil vor. Jeden Morgen um 7 Uhr sitzt Gunther Zorn am Schreibtisch. Als Mathematiker misst er die Zeit, die er am PC verbringt und verrechnet sie mit Bewegung. Drei Mal die Woche empfängt er seinen Freund zum sportlichen Duell an der Platte. Über die Ergebnisse im Tischtenniskeller hat er Leistungs-Diagramme angefertigt. Basis dafür sind die Schnitte aus Verlust und Sieg, die er pro Spieltag errechnet.

Seit 64 Jahren führt der Bäckerssohn Tagebuch. Seine Mutter, eine Kriegerwitwe, musste die Bäckerei Mayer in der Spitalgasse quasi alleine führen und hatte wohl auf eine gewisse Scheu, auf Elternsprechtage ins Gymnasium zu gehen. So gab sie dem gescheiten Buben den Auftrag: „Schreib auf, was du in der Schule erlebst, damit ich mitreden kann.“ Seitdem beliefert er sein Tagebuch gewissenhaft. 365 mal 64 Einträge hat er verfasst. Für jeden Tag hat er eine Spalte mit dem Wichtigsten gefüllt. Und auf einen losen Zettel notiert er den Plan für den kommenden Tag.

Gunther Zorn war der Älteste von drei Geschwistern. Seine ersten Lebensjahre verliefen im Takt der Backstube. Vor der Schule musste er Semmeln in Körbe einzählen und ausfahren, um 19 Uhr, nach dem Gebetsläuten, wurde der Teig gemacht. Die Mutter war mit Beruf und Kindern überfordert. Liebe gab es wenig für den Buben. Der musisch hochbegabte Spross einer Bäckerfamilie holte die Anerkennung aus familiären künstlerischen Wurzeln. „Mein Urgroßvater war Theaterdirektor in Worms.“ Gunther Zorn entwickelte kulturelles Sendungsbewusstsein.

Er wurde kein Bäcker, aber mit der Kunst ging es bei ihm wie beim Breznbacken. Mit 12 schrieb er den ersten Krimi, mit 14 die erste Heilige Messe, mit 15 kaufte sich der Straubinger seinen ersten Kontrabass und komponierte das erste Flötenquintett, mit 16 hatte er ein Bartrio, genannt „Domingo“, das unter anderem italienische Songs und die Musik von Freddy Quinn spielte. Später nannte man sich „Cool Jazz Quartett“ und spielte in amerikanischen Offiziersclubs, zum Beispiel in der Zeißstraße in Regensburg. Als er 24 war, gewann Gunther Zorn den Kompositionspreis des Bayerischen Jugendrings für seine Tondichtung „Großstadtstraße“.

„Der letzte Trumpf“

Die Früchte seiner Dokumentierbesessenheit sind eine stattliche Anzahl autobiografisch geprägter Romane. Zorns erstes Tagebuch war ein grüner Kalender, den ihm 1950 ein Vertreter für Berufskleidung schenkte. Er war 13, als er in seinem Heft den plötzlichen Tod seiner Großmutter am 14. März 1953 festhielt. Sie starb mitten unterm Tarockspielen. „Großmutter holte in großer Geste aus, konnte aber die Karte nicht mehr spielen. Sie griff sich ans Herz und fiel mit dem Gesicht auf die Tischplatte.“ Die Geschichte ist wahr und deswegen so gut, dass sie es in die beliebte BR-Sendung „Bayerisch Herz“ schaffte. „Der letzte Trumpf“ – kein geringerer als Gustl Bayerhammer hat sie vorgelesen.