Gesundheit
Ein Hausarzt für 8000 Menschen

Regensburg gilt als „überversorgt“. Mediziner machen im Alltag mitunter ganz andere Erfahrungen – an der Belastungsgrenze.

03.04.2018 | Stand 16.09.2023, 6:11 Uhr

Den Blutdruck kontrollieren – Alltag in einer Hausarztpraxis. Ärzte und Patienten erleben in Regensburg zunehmend, dass die wohnortnahe Betreuung aus vielerlei Gründen an ihre Grenzen stößt. Foto: Bernd Weissbrod/dpa

Arbeitstage, die bis 21.30 Uhr dauern, Notfalleinsätze auch am Wochenende, eine ständig wachsende Patienten-Kartei, ein stets volles Wartezimmer auch ohne Grippewelle – so erlebt der Allgemeinarzt Dr. Hans Peter Ferstl seinen Alltag. „Ich weiß nicht, wie lange ich das in dieser Intensität noch durchhalten kann“, sagt Ferstl, der seit 30 Jahren seine Praxis in Königswiesen-Süd betreibt. Das Verantwortungsgefühl gegenüber seinen rund 700 Patienten hat bisher verhindert, dass er deutlich kürzer tritt oder seinen Beruf gar ganz aufgibt. Der 58-Jährige ist sozusagen der Gegenentwurf zur „amtlichen“ Statistik, die für Regensburg eine Überversorgung mit Hausärzten ausweist.

Sperrgebiet für neue Ärzte

Laut aktueller Daten der Kassenärztlichen Vereinigung liegt der hausärztliche Versorgungsgrad für die Regensburger Bevölkerung bei über 125 Prozent. 107 Allgemeinmediziner sind nach der Bedarfsplanung im Stadtgebiet vorgesehen, tatsächlich gibt es 114. Der bundesweit gültige Schlüssel von 1600 Einwohnern pro Hausarzt wird zwar in Regensburg mit gut 1700 überschritten, verglichen mit anderen Regionen oder auch der nördlichen Oberpfalz ist diese Quote aber immer noch außergewöhnlich gut. So gut, dass sich im ganzen Stadtgebiet Allgemeinärzte nicht mehr neu niederlassen dürfen.

„Planungsbereiche mit einer Versorgungsquote von mehr als 110 Prozent sind für Neuzulassungen gesperrt“, bestätigt der Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern (KVB), Martin Eulitz. Lediglich die Übernahme bestehender Praxen durch Nachfolger ist auf Antrag möglich, um keine Lücken entstehen zu lassen.

Eine ganz andere Quote hat dagegen Dr. Ferstl im Sinn. Sein Einzugsgebiet ist ständig gewachsen, zumal zwei Kolleginnen jüngst dazu übergegangen sind, nur mehr Privatpatienten zu behandeln. Im Planungsbezirk Ziegetsberg/Königswiesen-Süd ist er mittlerweile der einzige praktizierende Allgemeinarzt für Patienten aller Kassen. „Rechnet man Neuprüll, Dechbetten, Graß und Leoprechting hinzu, so kann man den rechnerischen Einzugsbereich meiner Praxis mit 8000 Mitbürgern ansetzen – davon sind 90 Prozent gesetzlich Versicherte“, beschreibt Ferstl seine potenzielle Klientel.

„Eine ungewöhnlich hohe Zahl, aber solche Ausreißer sind unter außergewöhnlichen Umständen schon mal möglich“, sagt KVB-Sprecher Eulitz. Der Verband hat vom Gesetzgeber den Auftrag zur Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung übertragen bekommen. Mit diesem Auftrag kann es hapern, wenn sich kein Nachfolger für eine verwaiste Arztpraxis findet oder sich – wie im Fall Königswiesen – Kollegen aus der Versorgung von Kassenpatienten zurückziehen.

Denn die nächste Generation von Hausärzten steht nicht unbedingt schon vor der Tür. Dr. Wolfgang Krombholz, Vorstandsvorsitzender der KVB, erwartet „insbesondere in den nächsten Jahren eine große Versorgungslücke, wenn viele unserer Mitglieder in den Ruhestand gehen. Derzeit sind rund 35 Prozent der niedergelassenen Hausärzte in Bayern älter als 60 Jahre. Im Jahr 2017 beendeten rund 450 Hausärzte in Bayern ihre Praxistätigkeit, davon konnten bayernweit rund 120 Hausarztpraxen trotz aufwendiger Suche nach einem Nachfolger nicht nachbesetzt werden.“

Die ungute Entwicklung könnte auch das prinzipiell gut versorgte Regensburg einholen. Denn zunehmend erscheint dem medizinischen Nachwuchs nicht nur die oft thematisierte Landarzt-Praxis wenig attraktiv, sondern auch das gut gehende Pendant in der Großstadt. „Hier spielt das veränderte Berufsbild eine große Rolle“, sagt Martin Eulitz. „Junge Ärzte wollen oft keine Einzelpraxis mehr führen, sondern schließen sich zunehmend in Gemeinschaftspraxen zusammen.“ Team statt Einzelkämpfer: So reduzieren sie das finanzielle Risiko als Freiberufler und können ein breiteres Spektrum ärztlicher Dienstleistungen anbieten.

„Politik ist dringend gefordert“

Hans Peter Ferstl weiß derweil noch nicht, wie es in seiner Praxis weitergehen soll. Der nicht enden wollende „Strom von Kassenpatienten“ vor seiner Tür macht nicht nur ihm, sondern auch seinen Assistentinnen zu schaffen. Im Gegensatz zur mahnenden, aber noch optimistischen KVB sieht er generell schlechte Perspektiven für seinen Berufsstand und dessen Patienten. „Wenn nicht ein Wunder geschieht, gehen in ganz Bayern und nicht nur in Regensburg am Ziegetsberg in drei bis vier Jahren die hausärztlichen Lichter aus“, prophezeit der Mediziner. Er sieht vor allem die Politik gefordert: Sie müsse dringend der Entwicklung entgegensteuern, dass die Versorgung zwar „de jure“ gesichert ist, sich „de facto“ aber zunehmend Probleme auftun. Auf lange Sicht drohe „das Schreckgespenst überquellender Nothilfen und anonymer Ambulatorien“.

Dieses Szenario mag sich auch Josef R. (Name geändert) nicht vorstellen. Der Patient würde es „extrem bedauern“, wenn er sich nach 30 Jahren einen neuen Arzt suchen müsste. „Da geht es auch um ein langes Vertrauensverhältnis. Dr. Ferstl ist Arzt mit Leib und Seele, bei ihm sind Patienten keine Nummern“, sagt R.. Andererseits habe er Verständnis dafür, dass die Situation nach Veränderung schreit. „Aus menschlicher Sicht muss man ihm sogar zuraten, sich zurückzuziehen. Seine eigene Gesundheit sollte gerade ein Arzt im Blick behalten – auch wenn er immer vom Gedanken getrieben war, anderen zu helfen.“

Erhalten Sie täglich die aktuellsten Nachrichten bequem via WhatsApp auf Ihr Smartphone.Alle Infos dazu finden Sie hier.