Geschichte
Ein Leben für den Widerstand

Irmgard Gietl kämpfte jahrelang gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. In Japan wurde sie zur Ikone.

14.07.2018 | Stand 16.09.2023, 6:04 Uhr

Irmgard Gietl wurde zum Gesicht des Widerstands gegen die WAA in Wackersdorf. Für ihre Widerstandssocken ist sie bis heute berühmt. Foto: Huber

Das mit der Wolle ist geblieben. Auch nach 30 Jahren. Die Knäuel liegen quer über den Küchentisch verteilt, in den meisten stecken Stricknadeln. Irmgard Gietl zieht einen Stuhl unter dem Tisch hervor und nimmt behutsam platz. Ihre Augen sind groß, ihre Erinnerungen noch immer klar. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, die ihr Leben prägte. Vor allem aber sind es Erinnerungen, die ihr Verhältnis zum Staat für immer veränderten. Sie atmet tief durch – und beginnt zu erzählen.

„Was wir durften und was nicht, haben wir lange nicht gewusst“, sagt sie. Dass sie zu jener Zeit zum ersten Mal auf der Straße war, betont sie immer wieder. „Wir haben auch nicht ausgesehen, als würden wir auf die Straße gehen.“ Irmgard Gietl lacht. Heute kann sie das Leben in ihrer Heimat wieder genießen. Umsonst war das alles also nicht. Nein, da ist sie sich sicher. Der Blick hinter ihrer Brille ist ernst. Bis auf die dicken Gläser deutet nichts auf ihr Alter hin. Irmgard Gietl ist 89 – und sieht gut und gerne zehn Jahre jünger aus.

„Ich hasse alle Atomanlagen. Das ist erbärmlich.“Irmgard Gietl, WAA-Gegnerin

Der Protest hat sie jung gehalten, sagt sie. Jahrelang rannte sie durch den Wald, stand am Marterl oder am „roten Kreuz“. Wann immer sie konnte, demonstrierte sie am Bauzaun. Ihr höchstes Anliegen war ihre Heimat. Ihr Zorn richtete sich gegen den Staat, die Polizei, Franz-Josef Strauß und die atomare Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. „Ich hasse alle Atomanlagen“, sagt sie. „Das ist erbärmlich.“

Als Großmutter auf die Straße

Irmgard Gietls Leben nahm in den 1980er Jahren eine radikale Wende. Nachdem bekannt wurde, dass der stille Kiefernwald des Taxöldener Forsts für die von Strauß geplante WAA als Standort in Frage kam, hielt sie nichts mehr in ihren vier Wänden. Als sie zum ersten Mal mit ihrem Mann Alois auf die Straße ging, war sie bereits Großmutter. Nie zuvor hatte sie ein solches Gefühl von Ungerechtigkeit verspürt, nie zuvor hätte sie sich vorstellen können, dass ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat so mit seinen Bürgern umgeht.

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Auch nach 30 Jahren ist sie noch immer fassungslos. Fassungslos über die Lügen und Willkür der Polizei, die Ignoranz der Strauß-Regierung. Sie musste zusehen, wie Unschuldige verhaftet und friedliche Demonstranten beleidigt und niedergeprügelt wurden. „Wir haben unsere Heimat verteidigt. Und die Polizisten haben uns dafür als Arschlöcher beschimpft“, sagt sie. Ihre beiden Töchter unterstützten Irmgard Gietl bei ihrem Protest.

„Wir haben unsere Heimat verteidigt.“Irmgard Gietl, WAA-Gegnerin

Gemeinsam mit dem damaligen SPD-Landrat Hans Schuierer, der sich trotz eines Disziplinarverfahrens der Weisung der bayerischen Staatsregierung widersetzte, wurde Irmgard Gietl zum Gesicht des Widerstands. Noch heute verbindet sie eine enge Freundschaft mit Schuierer. Was vermeintlich harmlos begann, wurde für Gietl und eine ganze Region zum prägendsten Ereignis seiner Zeit. Zunächst versprach man sich neue Arbeitsplätze durch die geplante WAA. Welche Gefahr sich tatsächlich hinter Strauß‘ Plänen verbarg, war den wenigsten klar.

Die geplante Wiederaufarbeitungsanlage löste in den 1980ern massive Proteste in der Region aus:

Es seien aber nicht alle so gewesen. „Es gab auch viele Polizisten, die genau so wie wir gegen die WAA waren. Aber sie durften es eben nicht zeigen.“ Gietl widmete ihre Zeit jahrelang dem Widerstand. Sie verteilte Flyer, brachte Essen in die Hüttendorfer und strickte unzählige Paar Socken, damit es die WAA-Gegner warm hatten, sagt sie. „Das sind meine Widerstandsocken.“ Die Situation in Wackersdorf eskalierte immer mehr. 1988 hatten 881000 Menschen Einwendungen gegen den geplanten Bau der WAA erhoben, 420000 Unterschriften kamen allein aus Österreich. Unter den Gegnern der WAA befanden sich Gewerkschaftsmitglieder, Vertreter der SPD und der Grünen, etliche Umweltschutzorganisationen und 6100 Einzeleinwender: Familienväter und Mütter, Ärzte, Arbeiter, Professoren, Studenten – und Irmgard Gietl. „Wir sind vier Wochen lang jeden Tag nach Neunburg zum Erörterungstermin gefahren“, sagt Gietl.

Die Situation eskalierte völlig

Nachdem sich Autonome und Polizei in Wackersdorf immer heftigere Gefechte lieferten, eskalierte die Situation schließlich völlig. Hubschrauber flogen über die Demonstranten, erzählt Gietl. Wasserwerfer reichten bald nicht mehr aus. „Sie haben uns mit CS- und CN-Gas beworfen“, sagt Gietl. Einen Unterschied zwischen gewalttätigen Autonomen und friedlichen Demonstranten machte die Polzei nicht.

Zwei Jahre nach dem Aus der WAA verstarb ihr Mann Alois an Magenkrebs. Der Zusammenhang mit dem CN-Gas steht für Gietl außer Frage. Sie kämpfte weiter gegen die Atom-Lobby, egal ob in La Hague oder in Japan. In Rokkasho dient sie den Gegnern der dortigen WAA, die 2018 nach 30 Jahren Bauzeit hochgefahren werden soll, bis heute als Vorbild. Die Reise wäre mit 89 Jahren allerdings nicht mehr möglich. Stattdessen appellierte Gietl in einer Videobotschaft, dass sich die Atom-Gegner in Japan weiter zur Wehr setzen sollen. Gietls Kampfgeist ist bis heute geblieben, ebenso wie das mit der Wolle. Nur ihre Widerstandssocken bringt sie heute nicht mehr nach Wackersdorf – sondern schickt sie nach Japan.

Der Konflikt um die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf prägte die Menschen. Sämtliche Informationen zu diesem Thema finden Sie hier.

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