Vergebung
Wer kommt zuerst aus dem Schützengraben?

Der Regensburger Diplom-Psychologe und Paartherapeut Gerhard Hecht sagt, Machtmenschen tun sich schwerer beim Verzeihen.

02.04.2021 | Stand 12.10.2023, 10:03 Uhr
Streiten kann man sich nicht allein, vergeben aber durchaus, meint der Psychologe Gerhard Hecht. −Foto: Jan-Philipp Strobel/picture alliance / dpa

Je länger der Lockdown dauert, desto mehr gibt es mitunter zu verzeihen. Kontaktarmut, Enge, fehlende Abwechslung, aber auch der Wunsch, reinen Tisch zu machen, befördern Konflikte. Gerhard Hecht, Psychologe und Paartherapeut in Regensburg, erklärt, warum Vergebung nicht einfach ist.

Sich etwas zu vergeben, erleichtert Opfer und Schuldige. Warum fällt es so schwer?

Nicht jede Erleichterung ist leicht. Vergeben ist Aufgeben und das fällt wirklich oft schwer. Man kann es erst dann, wenn man keine Ansprüche mehr an den andern hat - Ansprüche nach Entschuldigung etwa oder Sühne, Geld, ein Schuldeingeständnis und so weiter. Als Therapeut fragt man das Opfer immer: „Welche Ansprüche bestehen noch?“ Oder: „ Was soll wer noch wie und wie oft tun?“ Erst dann, wenn das alles geklärt ist, kann das Vergeben, also das Aufgeben weiterer Ansprüche kommen.

Muss man das mit sich selbst ausmachen oder mit dem Gegenüber?

Vergeben ist immer eine Sache unter zwei Augen. Man braucht den anderen dafür nicht. Wenn man will, dass der andere nochmal redet, nochmal etwas zugibt, es persönlich sagt, es zurücknimmt, noch einmal, so und soviel Geld, wenigstens eine Entschuldigung… - dann hat man noch nicht aufgegeben. Man hat noch nicht gesagt: „So, jetzt ist es gut!“

Unsere Zeit ist geprägt von Selbstoptimierung und Selbstkritik. Man ist unversöhnlich mit sich selbst. Und mit anderen? Kann umgekehrt, wer sich selbst etwas nachsehen kann, auch anderen leichter vergeben?

Ja. Wenn ich gerne gegen mich selber im Kampf liege, kämpfe ich auch gerne mit anderen, würde ich grundsätzlich sagen. Nur wer es irgendwann mit sich gut sein lassen kann, kann es auch irgendwann mit anderen gut sein lassen. Wobei ich hier weniger Selbstkritik und Optimierungszwang als die Kontrollverliebtheit des Machttriebs am Werk sehe. Das mit dem Vergeben untrennbar verknüpfte Aufgeben ist für Machtmenschen ein Problem. Sie setzen Aufgeben automatisch mit Niederlage beziehungsweise Vernichtung gleich. Die Haltung „Wer kommt als Erstes aus dem Schützengraben?“ wäre dabei die ängstliche Variante und „So lange es einen Kampf gibt, gibt es auch etwas zu gewinnen“ die merkantile.

Wenn es etwas zu verzeihen gibt, geht es immer um eine Schuld.

Schuld oder das Verursacherprinzip ist ein wichtiges Ordnungsparameter des menschlichen Geistes. Fast reflexartig fragen Menschen - vor allem bei schlimmen Ereignissen - immer sofort nach dem Schuldigen. Schuldzuweisung ist also der drängende Versuch, zunächst eine Ereignisordnung herzustellen, die die Verunsicherung durch Katastrophen beruhigen soll. Nebenbei geht es dann dabei immer auch noch darum, das eigene Schuldkonto möglichst gering zu halten und das von irgendjemand anderem möglichst groß. Scheitert zum Beispiel eine Ehe oder ein anderes Unterfangen, verwenden alle Beteiligten die meiste Zeit auf die Klärung beziehungsweise Verunklärung der Schuldfrage, wobei heutzutage meistens schon eine (kleine) Teilschuld eingeräumt wird, um die Hauptschuld dann um so herzhafter dem anderen zuzuschreiben.

Und was ist mit Rachegefühlen? Auch sie stehen der Nachsicht im Weg.

Rache ist der Versuch des Ausgleichs - Auge für Auge - und beinhaltet die Vorstellung der Wiederherstellung des ursprünglichen Ordnungszustands,

zumindest aber die Wiederherstellung eines Gleichstands. Rache ist die Fortsetzung des Kampfs, der Versuch, aus einer vermeintlich unterlegenen Position herauszukommen und den anderen zu dominieren.

Es heißt „vergeben und vergessen“. Welche Rolle spielt das Vergessen?

Vergessen ist das Ziel, man will verunglückte Situationen oder Untaten hinter sich lassen. Wobei ich das ungewöhnliche Wort „Vergleichgültigung“ vorziehen würde, weil vergessen kann man solche Sachen meistens nicht. Aber die emotionale Aufschäumungsbereitschaft, die fortgesetzte Erhebung von Ansprüchen und das Präsentieren sorgfältig aufbewahrter Schuldkonserven - damit kann irgendwann Schluss sein. Es ist erst vorbei, wenn eine Vergleichgültigung erreicht ist, die wiederum das Vergeben, also das Aufgeben von Ansprüchen, beinhaltet.

Die Soziologin Dr. Sonja Fücker hat eine Studie über die Alltagskultur der Vergebung veröffentlicht. Lesen Sie hier ein Interview mit ihr: