Gesellschaft
Die Männer und die Muskelsucht
Sie sind durchtrainiert, doch vor dem Spiegel fühlen sie sich schlaff. Wann wird Sport zur fixen Idee? Eine Spurensuche.

München.Mit dem Protein-Shake nach dem Training wollen sie den Muskelaufbau beschleunigen, auch wenn das Pulver nicht gerade billig ist. Doch mit Eiweiß-Kicks ist es natürlich nicht getan: Wer als Freizeitsportler einen muskulösen Körper mit dicken Bizeps und Waschbrettbauch will, muss hart dafür arbeiten. Nicht wenige greifen zu verbotenen Präparaten. Und für einige Männer wird die Schinderei zur Sucht: Muskelwachstum wird zur fixen Idee, Sport zum Zwang.
Durchtrainiert wirken die Körper in der Werbung für Studios und Trainingsgeräte. Kaum ein Gramm Fett am Körper. Ideal, oder? Das sehen Dauersportler wie Gerrit für sich selbst anders: „Ich würde sagen, dass man nie wirklich zufrieden ist“, sagt der angehende Lehrer, 24, aus Frankfurt am Main. Er sei zwar muskulöser als der Durchschnittsbürger. Aber: „Beim Blick in den Spiegel fallen mir schon verschiedene Muskelpartien auf, auf die ich mich mehr fokussieren könnte.“ Seinen vollen Namen und Fotos möchte er nicht in den Medien sehen.

„Adonis-Komplex“ hat der US-amerikanische Psychiater Harrison G. Pope schon vor Jahren ein Phänomen genannt, bei dem Männer besessen sind von dem Gedanken, ihren Körper perfekt zu stylen. Der Name verweist auf eine mythologische Göttergestalt. Mittlerweile ist klar: Hier geht es um mehr als um persönliche Eitelkeit und Selbstoptimierung. Fachleute sprechen von einer psychologischen Erkrankung, wenn sich das Leben um fast nichts anderes mehr dreht.
Gerade in der Bodybuilder-Szene sind nach Meinung von Experten viele anfällig. Zu den Anzeichen gehört, dass das Urteil über das eigene Aussehen verzerrt ausfällt. Bei Mädchen ist bekannt, dass sich viele Magersüchtige trotz dürrer Körper als zu dick einstufen. Vom Adonis-Komplex betroffene Männer halten sich trotz vieler Muskeln für unverhältnismäßig klein und schwach, wie der in Australien tätige Neuropsychiater Philip E. Mosley in einem 2008 erschienenen Artikel schrieb.
Christian Strobel kennt viele solcher Fälle. Bei der Caritas bietet der Psychologe in München in einer Spezialambulanz Hilfe für Muskelsüchtige. „Es fängt mit einer gesunden Idee an: Hey, mach‘ doch Sport, das ist gesund“, beschreibt er die Abläufe. Das kennt man, es klingt soweit normal. „Aber dann verselbstständigt sich das.“

Manche seiner Patienten gingen sechs bis neun Mal die Woche ins Fitnessstudio. Ruhetage ohne Rudergeräte und Hanteln können sie sich nicht vorstellen. Einige kommen auf 23 Stunden Training die Woche.
Gerrit verbrachte mehrere Jahre, von 2014 bis 2018, fast die ganze Zeit mit Sport. Auf bis zu fünf Stunden Sport und Muskelaufbau kam der künftige Gymnasiallehrer an diesen Tagen, mehrmals die Woche. Zu Hause ging das Programm zur Optimierung der eigenen Optik abends weiter: „Dann war das große Fressen angesagt, um die ganze Energie reinzubekommen.“ Gerrit musste an manchen Tagen 5000 Kalorien in sich reinschaufeln, um keine Muskelmasse zu verlieren.
„Sehr viele vor allem männliche Fitness-Sportler stecken sich bezüglich des Muskelwachstums komplett unrealistische Ziele, werden von den langsamen Trainingserfolgen gefrustet und greifen dann zu Dopingmitteln.“
Obwohl die Krankheit viele Jahre bekannt ist, wird das Thema nicht so breit diskutiert wie etwa weibliche Magersucht. Exakte Zahlen fehlen. Einige Fachleute schätzen, dass die Gruppe der betroffenen Männer ähnlich groß sein könnte wie die der Frauen mit Essstörungen. Und sie debattieren, was medizinisch im Vordergrund steht, das falsche Körperbild oder das gestörte Essverhalten.
Wann die Muskelsucht beginnt
Ein bepackter Körper allein ist aber noch kein Beleg für Sucht. Für Muskelsucht braucht es bestimmte Merkmale in der Persönlichkeit. Bei Männern, die bei Strobel Hilfe finden, geht es häufig um ihren Selbstwert. Sie definieren ihn stark über Äußerlichkeiten. „Das ist ein sehr instabiler Selbstwert, der oft bröckelt“, erläutert der Psychologe. Eine Rolle spielt oft falscher Ehrgeiz: „Sehr viele vor allem männliche Fitness-Sportler stecken sich bezüglich des Muskelwachstums komplett unrealistische Ziele, werden von den langsamen Trainingserfolgen gefrustet und greifen dann zu Dopingmitteln“, sagt der Sportmediziner Perikles Simon von der Universität Mainz. Mehr als elf Millionen Menschen waren 2018 in deutschen Fitnessstudios angemeldet. Schätzungsweise 12 bis 13 Prozent davon haben, so sagt Simon, schon anabole Steroide konsumiert, also synthetische Stoffe zum Muskelaufbau. Wer Doping macht, gerät unter Umständen schnell in eine Abhängigkeit – vor allem, wenn er muskelsüchtig ist.
Neue Anker suchen und finden
Ständig besser sein zu wollen – früher hat Gerrit diesen Drang mit Videospielen ausgelebt. Danach beim Muskeltraining. Er hat sich Hilfe gesucht. Gerade lernt er fürs Staatsexamen. Im Studio sei er nur noch an etwa fünf Tagen pro Woche, ein bis zwei Stunden. Seine Schüler sollen von seinen Erfahrungen profitieren. Deshalb will er ihnen vor allem eines vermitteln: echten Spaß am Sport.
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