Wissenschaft
Natürliche Schutzmechanismen

Unwillkürlich, automatisch, stereotypl – das sind die Merkmale von Reflexen. Aber was genau läuft da in unserem Körper ab?

15.12.2019 | Stand 16.09.2023, 5:18 Uhr
Angela Sonntag

Von der Natur intelligent aufgebaute Reflexe verhindern, dass wir stürzen, uns verletzen oder dass wir als Babys schlicht überleben. Foto: Andrey Popov

Beginnen wir mal aktiv: Setzen Sie sich auf einen Stuhl, schlagen Sie locker die Beine übereinander und nun klopfen Sie mit der Handkante leicht auf das obere Bein, unterhalb der Kniescheibe zwischen Knie und Schienbein. Was passiert? Ihr Unterschenkel wird sich ruckartig nach vorne bewegen. Und eventuell werden Sie ein wenig lachen müssen, weil es sich komisch anfühlt. Dabei wird genau diese Reiz-Reaktions-Kette Sie bestimmt schon hundertfach davor gerettet haben, bevor Sie auf der Nase gelandet wären. Wussten Sie nicht?

Jedes Kind kennt den Patellarsehnenreflex. Bestimmt nicht unter dem Namen, aber jeder hat genau die oben beschriebene Situation schon mal ausprobiert. Die Erklärung dafür war stets: So funktionieren Reflexe. Aber wofür genau dieser Reflex uns nutzt, ist wahrscheinlich Wenigen bewusst. Wann bekommt man schon zufällig einen Schlag im Sitzen genau auf den Punkt unterhalb der Kniescheibe?

Der Kniesehnenreflex gehört zu den bekanntesten Reflexen des menschlichen Körpers. Seine Funktion ermöglicht uns Menschen zum Beispiel den aufrechten Gang auf unebenen Böden. Wenn die Patellarsehne (die Ansatzsehne der Oberschenkelmuskulatur unterhalb der Kniescheibe, daher auch der Name „Patellarsehnenreflex“) beim Aufspringen, Treppensteigen oder Stolpern zu einer Dehnung angeregt wird, dann spannen sich dank der Reflexantwort die richtigen Muskeln und hindern den Menschen so am Umfallen. Eine recht einfache Erklärung und eine hilfreiche Reaktion unseres Körpers, die wir wahrscheinlich als selbstverständlich ansehen und über die wir nie wirklich nachgedacht haben.

Kaum Beachtung, aber lebensnotwendig

Reflexe sind automatisch ablaufende Reaktionen, die über Nervenzellen koordiniert werden und dem Schutz unseres Körpers dienen. Sie sind unwillkürlich. „Wir müssen den Reflex nicht bewusst aktivieren und können ihn aber ebenso auch nicht willentlich steuern“, erklärt Prof. Dr. Hendrik-Johannes Pels, Chefarzt der Klinik für Neurologie bei den Barmherzigen Brüdern in Regensburg, die Schutzmechanismen in unserem Körper. Weil wir sie also nicht bewusst steuern, beachten wir sie kaum. Dabei sind Reflexe lebensnotwendig.

Reflexe sind entweder angeboren (unkonditioniert) oder erworben (konditioniert). Bei den angeborenen Reflexen wird zwischen Eigen- und Fremdreflex unterschieden. Wichtigster Unterschied ist die Anzahl der beteiligten Synapsen (die Verbindungsstelle zwischen zwei Nervenzellen oder zwischen Nervenzelle und einer anderen Zelle wie beispielsweise einer Muskelzelle). An einem Eigenreflex ist nur eine einzige Synapse beteiligt (monosynaptisch), bei einem Fremdreflex mehrere (polysynaptisch).

Wie genau aber funktionieren Reflexe? Zuerst trifft ein physikalischer oder chemischer Reiz auf eine Sinneszelle, den Rezeptor. Im Falle des Kniesehenreflexes der Schlag auf die Patellarsehne. Der Reiz wird in elektrische Signale umgewandelt, die über eine afferente Nervenfaser (hinführend zum Zentralnervensystem) ins Rückenmark laufen, wo die Verarbeitung des Reizes erfolgt. Über efferente Nervenfaser (hinausführend) gelangt das Signal zum Effektor (in dem Fall der Oberschenkelmuskel) und es kommt zur Reaktion, der Kontraktion des Muskels. Das Gehirn ist hier gar nicht involviert und so ist eine kontrollierte Steuerung auch nicht möglich.

So laufen alle Muskeleigenreflexe ab. Bei Fremdreflexen läuft der Reflexbogen nicht über das Rückenmark, sondern über das Gehirn. Beispiele hierfür sind der Lidschlussreflex, der Schluckreflex oder der Würgereflex.

Gerade für Babys sind Reflexe überlebensnotwendig. Bei Neugeborenen ist das Zentrale Nervensystem (ZNS, Gehirn und Rückenmark), vor allem das Großhirn noch nicht voll entwickelt. Das Gewicht des Gehirns beträgt nur etwa ein Viertel von dem eines Erwachsenen, da sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen und die Dicke der Nervenfasern erst ausbilden. Somit ist das Gehirn noch nicht voll funktionsfähig. Viele notwendige – vor allem motorische – Fähigkeiten, die später willentlich bewusst ablaufen, werden durch unbewusst gesteuerte Reflexe ersetzt, die mit sich selbst steuernden Regelkreisen vergleichbar sind.

Wichtige frühkindliche Reflexe, die sich nach den ersten Lebensmonaten wieder zurückentwickeln, sind der Saugreflex (das Baby beginnt zu saugen, sobald etwas den Gaumen berührt, in Kombination mit dem Schluckreflex), der Suchreflex (durch Berührung der Mundwinkel dreht das Baby seinen Kopf in diese Richtung; so kann es auch ohne sehen zu können die Brust der Mutter finden) oder der Atemschutzreflex (sobald Mund und Nase mit Wasser in Berührung kommen, verschließen sich seine Atemwege, so gelangt kein Wasser in die Lunge).

Die Glocke und die Pawlowschen Hunde

Da wir die Reflexe, die wir nur als Säugling brauchen können, wieder verlieren, lernen wir dafür neue. Der konditionierte Reflex ist durch einen Lernvorgang beeinflusst, somit also eine erfahrungsbedingte Verhaltensweise, die aber – genau wie der unkonditionierte Reflex – später unabhängig von einer inneren Handlungsbereitschaft abläuft. Ein Beispiel beziehungsweise eine Erklärung ist das Experiment des russischen Forschers Iwan Petrowitsch Pawlow, bekannt unter dem Namen der Pawlowsche Hund. Zugrunde liegt die Tatsache, dass Hunde während der Nahrungsaufnahme mehr speicheln. Bei dem vermehrten Speichelfluss handelt es sich um eine natürliche und zwanghafte Reaktion auf den Futterreiz – also auf den Geruch und Anblick des Futters. Dieser unwillkürliche Reflex der Vierbeiner ist nicht zu unterdrücken.

Der Forscher beobachtete allerdings, dass der Speichelfluss schon mehr wurde, wenn er sich nur dem Hundezwinger näherte, weil die Hunde dann wussten, es wird gleich Futter geben. Die beiden Situationen – Hören der sich nähernden Schritte und Speichelfluss für die Nahrungsaufnahme – hatten allerdings eigentlich nichts miteinander zu tun. Um die Konditionierung, also den Lernprozess, zu beweisen, läutete Pawlow jedes Mal mit einer Glocke, bevor er den Hunden ihr Futter gab. Und nach einiger Zeit begannen die Hunde zu speicheln, wenn die Glocke erklang, ohne dass überhaupt Futter in der Nähe war. So hatte Pawlow seinen Hunden also einen bedingten Reflex auf einen eigentlich für Hunde unbedeutenden Reiz erfolgreich antrainiert.

Klassische Konditionierung auch bei negativen Erfahrungen

Dem Menschen geht es dabei sehr ähnlich: Stellen Sie sich vor, Sie sind hungrig und gehen durch eine Stadt, plötzlich sehen Sie etwas Leckeres zu essen. Da läuft dem einen oder anderen auch, im wahrsten Sinne des Wortes, das Wasser im Mund zusammen. Ein anderes Beispiel wäre der Fliegeralarm aus dem Zweiten Weltkrieg. Bevor Bomben auf eine Stadt fielen, wurde per Heulton Alarm ausgelöst, die Menschen hatten Angst und versteckten sich in Bunkern und warfen sich auf den Boden. Auch später noch hat so ein Heulton die Reaktionen bei den Menschen ausgelöst.

Reflexe sind nicht nur Schutzmechanismen, die die Natur für die Lebewesen zum täglichen Überleben vorgesehen hat. Auch die Medizin kann durch Reflexe Erkenntnisse ziehen. So können Neurologen über die Reiz-Reaktions-Ketten testen, welche Funktionen im Körper eventuell gestört sind. Und auch wenn sie noch so unkontrollierbar sind, sind sie doch hilfreich. Denken Sie dran, wenn Sie das nächste Mal stolpern und hoffentlich nicht auf der Nase landen.

Der Text ist eine Leseprobe aus der Sonntagszeitung, die die Mittelbayerische exklusiv für ePaper-Kunden auf den Markt gebracht hat. Ein Angebot für ein Testabo der Sonntagszeitung finden Sie in unserem Aboshop.