Interview
Reflexe sind nicht kontrollierbar

Prof. Dr. Hendrik-Johannes Pels, Chefarzt der Neurologie bei den Barmherzigen Brüdern, erklärt die Wirkungsweise der Reflexe

15.12.2019 | Stand 16.09.2023, 5:18 Uhr
Angela Sonntag

Neurologe Prof. Dr. Hendrik Pels ist der Chefarzt der Klinik für Neurologie bei den Barmherzigen Brüdern in Regensburg. Foto: Martin Kellermeier

Herr Professor Dr. Pels, können Sie zu Beginn kurz erklären, was ein Reflex ist und was er in unserem Körper auslöst?

Prinzipiell unterscheidet man zwischen zwei Arten, dem Eigen- und dem Fremdreflex. Der Reflex ist so aufgebaut, dass ein auslösender Reiz eine Antwort des Körpers nach sich zieht. Diese Antwort des Körpers erfolgt unbewusst, sie ist also automatisiert. Das sind die Charakterisierungen eines Reflexes.

Ist es dann richtig, dass bei einem Reflex das Gehirn nicht beteiligt ist?

Das trifft nur für einen Teil der Reflexe zu. Denn es gibt unterschiedliche Reflexformen. Ich kann das an einem Beispiel aus der Neurologie erklären. Bei einem Muskeleigenreflex wird mit einem Reflexhammer auf eine Sehne, also die Verlängerung des Muskels, geklopft. Daraufhin folgt die unmittelbare Antwort auf diesen Reiz, verschaltet über das Rückenmark, nämlich die Kontraktion des Muskels. Das wäre der Ablauf des Patellarsehnenreflexes. Entwicklungsphysiologisch ist das als Schutzmechanismus des Körpers zu verstehen. Ebenfalls ein Beispiel, die meisten werden das von Kindern kennen, wenn der eine dem anderen von hinten in die Kniekehle kickt.

„In der Neurologie nutzen wir die Eigenreflexe, um Störungen nachzuweisen.“Prof. Dr. Hendrik-Johannes Pels, Chefarzt der Klinik für Neurologie bei den Barmherzigen Brüdern

Dann sackt man zuerst ein wenig zusammen – das ist der Reiz – und der Reflex, den es zum Glück gibt, sonst würde man hinfallen, sorgt dafür, dass sich der Muskel zusammenzieht und es zu einer Streckung im Kniegelenk kommt. Diese Eigenreflexe sind monosynaptisch, das heißt, es gibt nur eine Verschaltung: auslösender Reiz – Verschaltung über das Rückenmark – Reflexantwort. Im Gegenzug dazu sind Fremdreflexe polysynaptisch. Und hier geht die Verschaltung über das Gehirn. Was Sie aber wahrscheinlich meinen, ist, dass ein Reflex nicht der willentlichen Kontrolle unterworfen ist. Das heißt: Sie müssen den Reflex nicht bewusst aktivieren und können ihn aber ebenso auch nicht willentlich steuern. Das läuft automatisch.

Es gibt noch eine weitere Unterscheidung, zwischen angeborenen, also unkonditionierten Reflexen, und erworbenen, konditionierten Reflexen.

Richtig. Neben den angeborenen, wie beispielsweise dem schon genannten Patellarsehnenreflex, gibt es die erworbenen Reflexe. Man kennt die klassische Konditionierung im Sinne des Pawlowschen Hundes. Dieses Prinzip kann man auf jede Verhaltensweise des Menschen übertragen. Man kombiniert irgendeinen Reiz immer mit einer positiven Belohnung wie Nahrung, einem Getränk oder beispielsweise auch der Zigarette bei einem Raucher. Weil der Reiz immer an die gleiche Situation gekoppelt ist, löst er auch immer die gleiche Reaktion aus.

Im Bereich der konditionierten Reflexe: Muss ich gewisse Reflexe lernen? Oder anders gefragt, gibt es erworbene Reflexe, die lebensnotwendig sind?

Nein. Die lebensnotwendigen oder rettenden Reflexe sind die angeborenen. Ein Reflex, den sie zum Beispiel auch nicht lernen müssen, ist der Lidschlussreflex. Wenn sich irgendetwas schnell dem Auge nährt, schließt das Lid, somit wird die Hornhaut, das Augenlicht et cetera geschützt.

Kann ich angeborene Reflexe abtrainieren?

Nein, abtrainieren geht nicht. Was aber passieren kann, ist, dass durch neurologische Schädigungen des Nervensystems die angeborenen Reflexe gestört werden.

Welche Funktionsstörungen können auftreten und wie kann man sie feststellen?

In der Neurologie nutzen wir die Eigenreflexe, um Störungen nachzuweisen. Wenn beim Patienten beispielsweise eine zentrale Rückenmarksläsion, also eine Schädigung im Rückenmark durch einen Tumor, eine Blutung oder einen Schlaganfall auftritt, dann entfällt die natürliche Hemmung der Reflexe. Ist der Reflex also gesteigert, lebhafter als normalerweise, bedeutet das eine Schädigung des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark).

Wenn der Reflex fehlt, ist das ein Zeichen für eine Schädigung im peripheren Nervensystem. Das heißt, die Nerven selbst sind geschädigt. Dies ist beispielsweise der Fall bei Polyneuropathien. Diese zeigen sich klinisch zum Beispiel durch Sensibilitätstörungen (taube Füße) und/oder Lähmungserscheinungen. Die häufigste Ursache ist der Diabetes und übermäßiger Alkoholkonsum.

Gibt es weitere Krankheiten, die Reflexe beeinträchtigen?

Bei den Polyneuropathien sind tatsächlich Diabetes und Alkoholkonsum der Hauptgrund. Ebenfalls können aber auch endokrinologische Störungen wie die Schilddrüsenfunktionsstörung der Auslöser sein. Auch Autoimmunerkrankungen, die das periphere Nervensystem betreffen, können sich auf Reflexe auswirken und auch Vitaminmangel kann eine Polyneuropathie auslösen und damit eine Abschwächung der Muskeleigenreflexe.

Bestimmte Reflexe sind bei Neugeborenen physiologisch, zeigen aber bei Erwachsenen eine krankhafte Störung an.

Ja, das ist so. Bei Neugeborenen gibt es den Babinski-Reflex, der ist physiologisch: Wenn man über die Fußunterseite eines Neugeborenen streicht, zieht sich die große Zehe nach oben, die anderen Zehen nach unten beziehungsweise spreizen sich ab. Das ist ein Fremdreflex. Dieser Reflex geht allerdings im ersten Lebensjahr verloren. Wenn allerdings eine Pyramidenbahnläsion vorliegt, also eine Schädigung der motorischen Bahnen im Gehirn und Rückenmark, dann bleibt dieser Babinski-Reflex. Das heißt, ein ehemals physiologischer Reflex wird zu einem pathologischen Reflex. Ist dieser Babinski-Reflex also später, als Erwachsener immer noch vorhanden, zeigt das eine Störung an.

Einige Reflexe, die Neugeborene anfangs haben, gehen mit der Entwicklung verloren. Was hat es zum Beispiel mit dem Babinski-Reflex auf sich?

Das ist eine gute Frage, die ich so nicht direkt beantworten kann. Der entwicklungsbiologische Sinn des Babinski-Reflexes ist wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt. Anders ist es beispielsweise beim Greif-Reflex. Auch ein Reflex, der zunächst vorhanden ist, dann aber innerhalb der ersten Lebensmonate verschwindet. Aber er hat durchaus seine entwicklungsbiologische Berechtigung. Bei Kontakt mit der Handinnenfläche greift das Baby zu und so hält es sich fest. Später greift man ja bewusst zu, also durch das Gehirn gesteuert, es ist kein Reflex mehr nötig. Bei Menschen mit Demenzen oder Hirnschädigung beispielsweise kann dieser Reflex als pathologischer Reflex wieder auftreten.

Sind die Reflexe bei Koma-Patienten voll funktionsfähig?

Nein, das sind sie nicht. Man untersucht beispielsweise die Hirnstammreflexe, um das Ausmaß der Schädigung bei einem komatösen Patienten beurteilen zu können. Wie der Name schon sagt, heißt Hirnstammreflex, dass der Reflex über den Hirnstamm vermittelt wird – dazu gehört übrigens auch der Lidschlussreflex. Ist der intakt, können wir aus neurologischer Sicht sagen, dass die Partien, die für die Funktionsfähigkeit des Reflexes zuständig sind, nicht irreversibel geschädigt sind. Liegt dagegen eine schwere Hirnstammschädigung vor, sind auch diese Reflexe erloschen. Deswegen wird zum Beispiel gefordert, dass für die klinische Hirntod-Diagnostik die Hirnstamm-Funktion getestet werden muss und die Diagnose nur gestellt werden darf, wenn diese Reflexe erloschen sind.

Der Text ist eine Leseprobe aus der Sonntagszeitung, die die Mittelbayerische exklusiv für ePaper-Kunden auf den Markt gebracht hat. Ein Angebot für ein Testabo der Sonntagszeitung finden Sie in unserem Aboshop.