Psyche
Wenn der Zwang dir Lebenszeit raubt

Marotte oder Zwang, Angst oder schon Phobie? Die Übergänge sind fließend. Eine Betroffene erzählt ihre Therapiegeschichte.

17.07.2019 | Stand 16.09.2023, 5:38 Uhr
Rebecca Sollfrank-Großmann

Zwänge und Phobien können Betroffene überall im Alltag treffen und erheblich einschränken. Durch Therapien kann aber gegen und an den Ängsten gearbeitet werden. Foto: terovesalainen

Auch der stärkste Mann schaut einmal unters Bett“, hat Erich Kästner gesagt. Aber wann wird das vermeintliche Monster darunter zum realen Problem? Bis zu zwei Prozent der Deutschen leiden nach Expertenmeinung an einer Zwangsstörung, bis zu 15 Prozent an einer Angststörung. Prof. Dr. med. Rainer Rupprecht, Ärztlicher Direktor der medbo Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Regensburg und Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg, erklärt den Unterschied: „Phobien gehören zu den Angststörungen. Darunter fallen die Panikstörung und die generalisierte Angststörung.“ Als „Phobie“ bezeichne der Psychiater die Angst vor einer bestimmten Sache oder Situation. Betroffene fürchten sich beispielsweise ganz gezielt vor Spinnen, großen Plätzen oder anderen Menschen. Den Patienten ist bewusst, dass die Angst unbegründet und übertrieben ist. Trotzdem vermeiden sie die Auslöser. Die damit verbundene Erleichterung verstärkt wiederum die Angst im Sinne einer negativen Konditionierung. „Bei einer Zwangsstörung wiederholen Betroffene zwanghaft bestimmte Gedanken oder Handlungen. Sie leiden etwa unter der wiederkehrenden Vorstellung, jemanden aus Versehen umzubringen, oder unter Wasch- und Zählzwängen. Die Patienten haben das Gefühl, sich dagegen nicht wehren zu können.“ Auch hier wissen die Betroffenen, wie irrational die Zwänge sind. Jedoch können sie die Zwangsgedanken und -handlungen nicht unterlassen, ohne wiederum große Angst zu verspüren. Ein Teufelskreis.

Nur zwei bis drei Stunden Schlaf

„Angst ist für mich vor allem die Angst vor der Angst. Der Zwang ist die Begleiterscheinung. Freiheit bedeutet für mich das Befreien aus dem ewigen Gedankenkreis des Zwangs, die Möglichkeit, wieder selbst über dein Leben zu bestimmen. Denn der Zwang raubt dir vor allem Lebenszeit.“ Bis vor zwei Jahren hat Franziska (Name geändert) noch etwa zwölf bis 14 Stunden am Tag mit Wasch- und Kontrollzwängen verbracht, unter anderem bedingt durch ihre Angst vor Bakterien. „Zwängeln“ nennt sie selbst dieses Verhalten und der damalige schiere Aufwand ihrer Zwangshandlungen lässt nicht vermuten, dass die Programmiererin bis zu ihrem Klinikaufenthalt Vollzeit arbeitete.

Beides unter einen Hut zu bringen, bedeutete schlicht „nur zwei bis drei Stunden Schlaf über den Tag verteilt“. Seit Anfang 2019 ist Franziska Leiterin der Gruppe „Backtoliberty“ (E-Mail:backtoliberty@web.de). In Kontakt mit ihr kommen wir über KISS, die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen unter gemeinsamer Trägerschaft des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Regensburger Sozialen Initiativen e.V. (https://www.kiss-regensburg.de/home/). Dass es ihr heute gut geht, dass sie ihre Zwangsstörungen auf ein Level von nur noch fünf Prozent senken konnte, führt Franziska nicht nur auf die sehr gute Therapie zurück. Ihrem starken Umfeld – ihrer früheren Lebensgefährtin und ihrer Chefin beziehungsweise ihren Kollegen – sei es zu verdanken, dass Franziska schließlich den Absprung aus dem Teufelskreis Angst-Zwang-Angst in die Therapie schaffte. Dabei war es gerade ihr Job, der ihr das „Zwängeln“ zunächst eher erleichterte. Sie hatte einen so kurzen Arbeitsweg, dass es lange nicht auffiel, wenn sie in Pausen oder zwischendurch zum „Zwängeln“ ging. Das förderte ihr krankhaftes Verhalten. „Zwang hat mit Scham zu tun. Wenn ich zum Zwängeln nach Hause musste, habe ich viel gelogen.“ Doch irgendwann ließ sich ihrem beruflichen Umfeld nicht mehr verbergen, dass etwas nicht stimmte. Ihre Chefin drängte sie, sich genügend Zeit für sich und die Therapie zu nehmen, statt zu versuchen, Genesung und Arbeitsalltag zu verbinden. Mit einer Homeoffice-Option wäre Franziska höchstwahrscheinlich weiter im Zwangskreislauf hängen geblieben.

„Prinzipiell gibt es zwei Herangehensweisen in der Therapie von Phobien“, erläutert Professor Rupprecht. Die eine Methode ist sogenanntes „Flooding“ (Fluten). Nachdem ein Therapeut den Patienten entsprechend vorbereitet hat, wird er mit seinem stärksten angstauslösenden Reiz konfrontiert, ohne aus der Situation fliehen zu können. „Unter kontrollierten Bedingungen soll er erfahren, dass seine Angst aushaltbar ist.“ Genau von der anderen Richtung her arbeitet die systematische Desensibilisierung. Zunächst erarbeitet der Patient eine „Angsthierarchie“, teilt seine Ängste also in schlimmere und weniger schlimme Sorten ein. Schrittweise werden jetzt in der Therapie die Ängste abgearbeitet, allerdings beginnend mit dem am wenigsten gefürchteten Reiz. Bei Zwangsstörungen kann ein Expositionstraining helfen. Der Patient wird einer Situation ausgesetzt, die normalerweise sein Zwangsverhalten auslöst. Ein Therapeut verhindert das Ausführen der Zwangshandlung. So lernt der Patient in positiver Konditionierung, dass das Nichtausführen des Zwangs eben keine negativen Folgen hat. Natürlich werden bei Phobien und Zwangserkrankungen auch Medikamente wie Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer oder Antipsychotika angewendet. Professor Rupprecht betont allerdings: „Wichtiger und erwiesenermaßen wirksamer sind die nicht-medikamentösen Verfahren, allen voran die kognitive Verhaltenstherapie. Bei dieser Form der Psychotherapie erarbeiten Therapeut und Patient schrittweise einen vernünftigen Umgang mit den Ängsten oder Zwängen.“

Therapieziel eine Symptomreduktion und keine Symptomfreiheit

Ist es möglich, einmal ausgeprägte Phobien und Zwänge vollkommen wieder zu heilen? Der Weg zur Angst- oder Zwangfreiheit, meint Rupprecht, könne lang und schwer sein und werde immer wieder durch Rückfälle erschüttert. „In manchen Fällen ist es daher sinnvoller, als Therapieziel eine Symptomreduktion und keine Symptomfreiheit anzustreben.“ Frei zu sein vom Zwang kann sogar negative Folgen haben, warnt Franziska. „Viele Betroffene, deren Leben vorher vom Zwängeln bestimmt war, wissen mit der vielen ‚freien‘ Zeit, die ihnen plötzlich bleibt, nichts anzufangen. Im schlimmsten Fall führt das zu Depression oder Selbstausbeutung, weil man anfängt, sich zum Beispiel für andere aufzuopfern, nur um beschäftigt zu sein.“

„Zwang hat mit Scham zu tun. Wenn ich zum Zwängeln nach Hause musste, habe ich viel gelogen.“Franziska (Name geändert), kämpfte mit einem Wasch- und Kontrollzwang

Achtsamkeit ist für Franziska deshalb kein leeres Modewort – für sie war sie ein Teil ihrer Therapie, hat ihr geholfen, eben nicht in dieses Loch zu fallen, das das Zwängeln hinterlassen hatte. Franziska definiert Achtsamkeit vor allem als Selbstfürsorge, die aber bei jedem Patienten anders aussehen müsse. „Ich persönlich habe erst einmal Schlaf nachgeholt“, erzählt sie lachend, „regelmäßig acht Stunden. Spazieren gehen, eine Massage, ein gutes Buch lesen, das sind alles einfache Möglichkeiten, für sich selbst etwas zu tun.“ Glück für die junge Frau: Sie hatte schon vorher Hobbys „und natürlich war mein Beruf ein großer Motivator, wieder in ein normales Leben zurückzukehren“.

Engagement für die „Karma-Kasse“

Heute gilt sie als Modell-Patientin ihrer Klinik, arbeitet noch immer mit ihren Therapeuten zusammen und hat ihre Zwangsstörungen auf ein Level von nur noch fünf Prozent senken können. Ihr Engagement für andere Betroffene ist für sie auch das Anliegen, „in die Karma-Kasse einzuzahlen, weil mir selbst so effektiv geholfen wurde“. Sie will mit ihrem positiven Beispiel anderen im wahrsten Sinne vor Augen führen, dass es einen Weg aus Zwang und Angst gibt. Einen großen Anteil daran hat das Umfeld des Patienten, daran lässt Professor Rupprecht keinen Zweifel und rät zu einer „neutralen Haltung“ gegenüber Betroffenen. Verwandte und Freunde sollten den Betroffenen weder für verrückt erklären noch das Problem kleinreden. „Wichtig ist ein offener und unvoreingenommener Umgang.“ Fühle sich der Patient gezwungen, Ängste und Zwänge zu verheimlichen, führe das nur zu einer Verstärkung der Erkrankung. Zudem bleibe das Problem dann länger unentdeckt, die Gefahr der Chronifizierung wachse. Je früher eine entsprechende Diagnose gestellt wird, desto wahrscheinlicher ist ein Therapieerfolg. Rupprecht: „Es ist wichtig, beide Störungsbilder zu entstigmatisieren, damit Betroffene sich früher trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ Führt die immer noch praktizierte Tabuisierung psychischer Erkrankungen zu mehr psychischen Erkrankungen?

Der moderne Drang der bedingungslosen Selbstoptimierung ist für Franziska in jedem Fall ein mögliches Risiko, ins Gegenteil, nämlich die Zwangserkrankung, abzurutschen. „Meine persönliche Meinung ist, dass gerade die Generation Y hier Gefahr läuft, die Kontrolle über ihr Leben abzugeben. Manchmal kommt mir deren Instagram-Posten schon wie eine Zwangshandlung vor.“ Perfekt sei nun einmal niemand. Sich immer höheren Ansprüchen an sich selbst auszusetzen, könne zu einem Kreislauf aus Unzufriedenheit und Überforderung führen. „Das ist ein guter Nährboden für echte Phobien und Zwänge.“ Die Digitalisierung sieht Professor Rupprecht ähnlich ambivalent. Einerseits trauten sich Betroffene in der Anonymität von Chats und Selbsthilfeforen eher, Hilfe zu suchen. Mittlerweile gebe es sogar Forschungen zu therapeutischen Apps und Teletherapien, also Psychotherapien per Videokamera oder SMS. Diese könnten während der Wartezeit auf einen richtigen Therapieplatz zum Einsatz kommen. „Auf der anderen Seite ist der Patient nicht vor Fehlinformationen geschützt. Die modernen Medien mit ihrem Überangebot an Informationen können Ängste sogar verstärken. Meiner Meinung nach lässt sich eine vernünftige Therapie mit einem Therapeuten, zu dem man eine vertrauliche Bindung aufgebaut hat, durch nichts ersetzen.“

Die beste Medikation? – Humor und Selbstironie!

Hatte das Zwangsleben für Franziska auch gute Seiten? „Ich hatte in dieser Zeit scheinbar unendlich viel Energie, war unglaublich fleißig, strukturiert und ordentlich. Meine Wohnung war absolut perfekt.“ Seit sie nicht mehr zwanghaft putze, sei es bei ihr zuhaue unordentlicher geworden, scherzt sie – und bringt damit ein weiteres wichtiges Thema auf den Punkt: Die Krankheit müsse man unbedingt mit Humor betrachten. „Selbstironie ist unglaublich wichtig. In der Therapie haben wir immer gewitzelt: Sagrotan ist das Weihwasser der Zwängler.“ Sie habe mit ihrem schwarzen und etwas schrägen Humor in der Klinik andere Patienten angesteckt. „Dass ich über mich selbst lachen konnte und kann, war Teil meines Therapieerfolgs. Humor ist ein guter Einstieg zur Selbstreflexion und das bringt einen zum Nachdenken. Das will ich heute auch in meiner Gruppe nutzen.“ Wie genau es mit Backtoliberty weitergeht, wird sich zeigen. Bisher war die Gruppe in zwei Untergruppen eingeteilt: die der Betroffenen selbst und die der Angehörigen beziehungsweise Freunde. Gruppenarbeit ist aber ein dynamischer Prozess, der die Strukturen mit der Zeit verändern kann. Wichtig ist Franziska in jedem Fall Transparenz – und mehr zu bieten als nur regelmäßige Gruppengespräche. „Deshalb hole ich regelmäßig Experten für Vorträge in die Gruppe oder organisiere Tagesworkshops.“ Freiheit muss man sich eben erarbeiten.

Der Text ist eine Leseprobe aus der Sonntagszeitung, die die Mittelbayerische exklusiv für ePaper-Kunden auf den Markt gebracht hat. Ein Angebot für ein Testabo der Sonntagszeitung finden Sie in unserem Aboshop.