MZ-Serie
Dieser Mann sitzt gern am Steuer

Gökhan Altincik war als Schüler faul, stürzte sich in Krankenpflege – und lenkt heute ein Unternehmen mit 1100 Mitarbeitern.

22.08.2017 | Stand 16.09.2023, 6:31 Uhr

Selfmademan Gökhan Altincik: Mit 3000 Euro in der Tasche holte er sich den Gewerbeschein. Heute macht er 22,7 Millionen Euro Jahresumsatz. Foto: Sperb

Das Gefühl nach einer Stunde Gespräch mit Gökhan Altincik ähnelt dem nach einer Stunde Dampfbad: ein bisschen durchgeweicht, stark angeregt und maximal durchblutet. Der 42-Jährige, der von 8 bis 9 Uhr in einem Lokal in Regensburgs Altstadt über sich und seine Unternehmen erzählt hat, sendet geradezu körperlich fühlbare Druckwellen von Energie aus. Und was er berichtet, bringt einen doch sehr ins Nachdenken darüber, was im Leben alles möglich ist.

Gökhan Altincik verkörpert die bayerische Version der amerikanischen Erfolgsstory. „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ heißt in seinem Fall: „Vom Krankenpfleger zum Firmenlenker“. Migrationshintergrund, schlechte Noten, kein Abschluss: Nichts deutete darauf hin, dass aus dem Sohn türkischer Eltern, die in den 1970er Jahren nach Deutschland kamen, mehr als ein durchschnittlicher Angestellter werden könnte. Aber es kam entschieden anders.

Die Gründung war eine Art Zufall

Gökhan Altincik war „in der Schule faul“, wie er bekennt. Er scheiterte am Quali, er lernte Elektriker – und er begann, in der Kranken- und Intensivpflege zu arbeiten. 2000 kam er nach Regensburg. Er versorgte Patienten am Uniklinikum. Bis er 2008 einen Gewerbeschein brauchte. „Ich wollte in der Metro einkaufen. Dazu brauchte ich den Schein. So einfach war das.“

Der Oberpfälzer (Geburtsort: Auerbach) gründete in Saal die Ambulante Intensivpflege Bayern (A.I.B.), ihr Zweck: Pflegebedürftigen ein Leben daheim zu ermöglichen. „Die Arbeit am Uniklinikum hatte mir gefallen. Und ich dachte: Man kann einiges besser machen.“ Bei ihrem ersten Patienten waren Gökhan Altincik und seine Frau, Fachkraft für Intensivpflege, noch „sehr aufgeregt“. Heute betreuen für die A.I.B. 850 Mitarbeiter 170 Patienten. Nach der Fusion mit dem Pflegedienst Hero wird das Team bis Ende 2017 auf 1100 Kräfte wachsen.

3000 Euro steckte der Gründer 2008 in sein Unternehmen. 22,7 Millionen Euro Umsatz machte er 2016. Die Pflege-Branche boomt. Der Bedarf an Intensiv-Betreuung nimmt zu. Die Menschen, die sich der A.I.B. anvertrauen, sind schwer- und schwerstkrank, viele müssen beatmet werden. Die Aufgabe belastet. „Vor allem bei den Kindern ist es hart.“ Auf einen Intensiv-Patienten, der daheim lebt, kommen 5,5 Pflegekräfte. In den Wohngruppen kümmert sich eine Kraft um 2 bis 2,5 Schwerstkranke.

Gökhan Altincik skizziert sein Unternehmen wie den Grundriss für ein Haus. Er strahlt eine Spannung aus, die wohl seinem Dauertonus entspricht. Manchmal macht er den Eindruck, da denkt jemand schneller als er die Worte finden kann. „Ach, mein Sprachfehler!“, sagt er dazu nur. „Auch deshalb glaubten wohl manche, ich würde es nicht schaffen.“ Die Nachfrage entwickelte sich rasant. 2009, ein Jahr nach der Gründung, eröffnete A.I.B. die erste Wohngruppe, in der Augsburger Straße in Regensburg. Heute betreibt das Unternehmen rund 20 Wohngruppen zwischen Unterfranken und Oberbayern, meist zentrumsnah. „Wir wollen die Leute ja nicht an den Stadtrand abschieben“, sagt Altincik. „Sie sollen am Leben teilnehmen.“

Patienten, die Beatmung brauchen, gelten als Joker der Branche. Die Kassen erstatten hohe Sätze. Die A.I.B. erhält pro Fall und Monat rund 10 000 Euro, die WG-Patienten zahlen um die 500 Euro Miete. Die Marge ist gut. „Aber sie könnte höher sein“, sagt Gökhan Altincik. „Wenn man weniger in Qualität investieren würde.“ Qualität und Zeit sind Schlüsselwörter auf der Homepage. A.I.B. hat in der Branche einen guten Ruf. Schwarze Schafe im Pflege-Business sorgen immer wieder mal für Schlagzeilen. Altincik hält dagegen: Er engagiert sich in einem Verband für Qualitätssicherung. Er sucht Fachpersonal.

„Ich bin mit allen meinen Leuten per Du. Manchmal fragen sie mich auch in privaten Dingen um Rat.“Gökhan Altincik

Er bildet selbst aus, konstant 25 bis 30 Azubis in Bayern. Er kalkuliert großzügig Pflegezeit ein. Und er nimmt keinen Bewerber, der sich nicht fließend auf Deutsch mit Patienten unterhalten kann. „Als Chef mit Migrationshintergrund kann ich das mir erlauben.“

Was ist der Erfolgsfaktor von Altincik? Vielleicht das: „Dinge, die ich nicht brauche, entferne ich aus meinem Kopf“, sagt er. Das mache ihn frei für neue Ideen. Zuletzt stieg er in eine Spedition ein (70 Mitarbeiter) und übernahm einen privaten Krankentransportdienst. „Er überlegt schnell. Und er sieht die Chancen“, sagt Jan Quak, ein Geschäftspartner, der mit am Tisch sitzt.

Mit sämtlichen Mitarbeitern per Du

Die Erfolgsformel errechnet Altincik selbst vor allem aus dem Führungsstil. „Ich bin mit allen meinen Leuten per Du. Manchmal fragen sie mich auch in privaten Dingen um Rat. Man kann mich immer anrufen, auch nachts. Und ich versetze mich in die Rolle der Mitarbeiter. Ich möchte wissen, was sie brauchen.“ Bis hin zu Gratis-Kaffee, rückenschonenden innovativen Tragen und picobello sauberen Dienstautos. „Auch kleine Dinge sind wichtig.“ Später, beim Fototermin vor dem A.I.B.-Fahrzeug, wischt Altincik spontan noch kurz das Logo am Fenster blank.

„Ich habe etwas erreicht. Darauf bin ich schon stolz.“Gökhan Altincik

Chefs mit 1000 Angestellten stellt man sich als abgeschirmte Konzernlenker vor. Aber der Unternehmer aus Niederbayern ist kein normaler Chef. „Ich arbeite so oft wie möglich an der Basis mit, um zu sehen, wie es läuft.“ Nebenbei fährt er, seit Jahren, für das BRK. „80 bis 120 Stunden in Notarztdienst und Notfallrettung“ – im Monat, ehrenamtlich. „Das macht mir Spaß“, sagt der 42-Jährige. „Auch wegen der Spannung: Wohin geht es? Welche Menschen werden da sein?“

Gökhan Altincik sitzt offensichtlich gern am Steuer und lenkt sein Leben. „Ich habe etwas erreicht. Darauf bin ich schon stolz. Ich habe mich angestrengt. Aber: Ich hatte auch Glück“, resümiert er. Manchmal fühlt er, wie ein Gegenüber staunt und ihn beneidet. Dann sagt er: „Wir können gern mal einen Tag tauschen.“

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