Porträt
Ein Freund und Helfer, der Ernst macht

Ob Erzieher, Undercover-Cop, oder Adoptivvater – Carlos Benede war schon vieles. Dahinter stand ein Ziel: anderen zu helfen.

24.02.2017 | Stand 16.09.2023, 6:34 Uhr
Katja Meyer-Tien

„Der größte Feind des Pädagogen ist das Schubladendenken.“ Carlos Benede

Die Haustür ist offen. Es ist ein unauffälliges Haus, mitten im Wohngebiet im Dachauer Osten, freundlich gelbe Fassade, weiße, bodentiefe Fenster, im kleinen Garten hängt ein Basketballkorb. „Weitblick e. V.“ steht in weithin sichtbaren Buchstaben oben an der Fassade. Der Blick des etwa 15 Jahre alten Jungen, der telefonierend im Hausflur steht, geht allerdings noch nicht besonders weit. Er endet einige Zentimeter vor seinen Füßen am Boden. Er ist einer von Carlos Benedes Schützlingen. Einer von Dutzenden, die er ein Stück ihres Weges begleitet, eines Weges, den sie erst noch finden müssen. Häufig ist es ein Stück, das sonst niemand mehr mit ihnen gehen will. Weil sie prügeln, Drogen nehmen, Alkohol trinken, klauen, nicht zur Schule gehen. Weil sie die Fälle sind, die andere aufgegeben haben.

Rund um die Uhr im Dienst

Als Carlos Benede, ein kräftiger Mann mit dunkler Haut, schwarzer Brille und Münchner Klangfarbe sich an diesem Vormittag an den schlichten Tisch in seinem Büro setzt, um über sein Leben zu reden, da sieht man ihm an, dass es ihm schwerfällt, sich diese Zeit zu nehmen. Wichtiges wartet auf ihn, die 15 Jungs in seinem Haus, jeder mit seinem eigenen Rucksack an Herausforderungen, der Papierkram, der ihn in der vergangenen Nacht wieder bis eins aufgehalten hat, seine beiden Adoptivsöhne, die ihn brauchen. Aber es lohnt sich, ihm zuzuhören oder seine Geschichte zu lesen (Carlos Benede: Kommissar mit Herz, erschienen bei Knaur, Anm. der Red.), denn nichts von dem, was er erzählt, ist Theorie. Es ist gelebtes Leben und lebendige Nächstenliebe.

„Das ist wie wenn man alle Eltern über einen Kamm scheren würde.“Carlos Benede

Das fremdländische Aussehen hat Carlos Benede von einem Vater, den er nie kennenlernte, wahrscheinlich Franzose, dunkelhäutig. Und von seiner Mutter, Spanierin, die zu jung mit ihm schwanger wurde, ihn weggab und verschwand. So wuchs Benede im Heim auf, bei den Franziskanerinnen in Dillingen. Es war ein Glück, dort aufwachsen zu dürfen, sagt er. Dass nach den schrecklichen Ereignissen in einigen Einrichtungen alle Kinderheime in Verruf geraten sind, das tue ihm im Herzen weh: „Das ist wie wenn man alle Eltern über einen Kamm scheren würde.“ Fotos aus dieser Zeit zeigen ihn mal fröhlich im Schlauchboot, mal cool am Strand in Italien. Die Schwestern waren streng, aber sie waren immer da, Tag und Nacht, gaben Wärme und Geborgenheit. Und tauschten im Winter ihre Ordenstracht gegen Skianzüge, um mit ihren Jungs auf die Piste zu gehen. „Die waren damals schon weiter, als es manche Einrichtung heute ist“, sagt Benede. Dass er mal mit Menschen arbeiten will, wusste Benede früh, was genau, wusste er nicht. Für die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann ging er nach München, arbeitete in einem Schuhgeschäft und wohnte bei den Salesianern – die ihn beeindruckten, mit ihrer Offenheit, ihrem Engagement für Jugendliche.

Die Arbeit mit Jugendlichen ist eine erfüllende Aufgabe

Irgendwann dort wurde ihm klar: Verkäufer, ein Leben lang, das ist doch nichts für ihn. Er schloss die Lehre ab und begann zu büffeln: Berufsaufbauschule, Mittlere Reife, Katholische Fachakademie für Sozialpädagogik. Gleichzeitig lebte und arbeitete er im Salesianum, erst in München, dann in Regensburg. Eigentlich hätte Benede hier glücklich werden können. In der Arbeit mit den Jugendlichen hatte er eine Aufgabe, die ihn erfüllte, er hatte nette Kollegen und mit dem Regensburger Erzieher Siegfried Hofer auch einen Freund gefunden, mit dem er auf einer Wellenlinie war. Benede hatte Spaß, wusste, wie man Partys feiert, war ein Lebemann, erzählt Hofer grinsend. Doch eines Tages sprach ihn der Vater eines Jungen an, ein Kriminaldirektor. Ob er sich nicht vorstellen könnte, zur Polizei zu gehen? Benede war verblüfft. Er, als Erzieher, farbig, 26 Jahre alt, zur Polizei? Doch der Beamte ließ nicht locker, „solche, die über den Tellerrand schauen können“, könne man gut gebrauchen. Und so wurde aus Carlos Benede ein Polizist.

Es wurde keine leichte Zeit. Benede arbeitete zunächst fünf Jahre beim LKA als verdeckter Ermittler, dann wechselte er zur Münchner Polizei ins Rauschgiftdezernat. Er machte seine Arbeit gut, doch es fiel ihm schwer, die Distanz zu wahren. Gerade bei Minderjährigen. Jugendliche als Kriminelle zu sehen, das war nicht sein Ding. Er fühlte mit, interessierte sich für die Geschichten hinter den Menschen, die er einsperren sollte. Und irgendwann war ihm klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Er kündigte. Und wurde wieder überrascht: „Warte noch“, sagte sein Chef, „da wird gerade ein Dezernat aufgebaut, das ist wie maßgeschneidert für dich“. Benede wurde Zeuge eines Paradigmenwechsels in der Polizeiarbeit. In den 90er-Jahren veränderte sich der Fokus, es war nicht mehr nur der Täter, der im Mittelpunkt der Arbeit stand.

„Der größte Feind des Pädagogen ist das Schubladendenken.“Carlos Benede

Opfer und Angehörige, vormals höchstens als Zeugen relevant, rückten ins Blickfeld: Carlos Benede kam zum neu gegründeten Dezernat „Opferschutz und Prävention“. Kuschelpolizei, spotteten damals viele. Heute ist der Opferschutz eine wesentliche Säule der Polizeiarbeit. Damals leisteten Benede und seine Kollegen Pionierarbeit. Wie gewinnt man das Vertrauen verstörter, misshandelter, traumatisierter Kinder? Wie gibt man ihnen neue Perspektiven? Wie verhindert man, dass sie selber zu Tätern werden? Die Opferschützer mussten sich alles selbst erarbeiten, auf Instinkt und Gefühl vertrauen. Vielleicht ein Vorteil, sagt Benede: „Der größte Feind des Pädagogen ist das Schubladendenken.“

„Manchmal musste ich mich kurz umdrehen, um nicht loszuweinen.“Carlos Benede

Schlimme Sachen sah Benede. Kleine Mädchen, die missbraucht wurden, kleine Buben, die erlebten, wie der Vater die Mutter verprügelt. „Manchmal musste ich mich kurz umdrehen, um nicht loszuweinen“, sagt Benede. Es ist eine Aufgabe, die kaum emotionale Distanz zulässt. Regelmäßig gab es Supervisionsgespräche, das half. Aber Benede konnte nicht aus seiner Haut. „Wenn es die Aufgabe war, das theoretisch zu sehen, sich von den Opfern zu distanzieren, dann bin ich gescheitert. Sonst hätte ich nicht zwei mit nach Hause genommen“, sagt er und lacht. Benede ist kein gescheiterter Mensch. Er hat zwei Jungen adoptiert, deren Mütter von ihren Vätern ermordet wurden, und die niemanden mehr hatten. Beide Male eine Herzensentscheidung, die sein Leben und das Leben der Kinder enorm verändert hat. Und die er nicht bereut hat.

Ein Zuhause für Teenager, die sonst durch das Raster fallen

Es gab schöne Momente in den 17 Jahren, die Benede beim Opferschutzdezernat verbrachte – wenn er wirklich helfen konnte. Frustrierend aber war es, wenn Benede zusehen musste, dass manche Kinder durch das Raster rutschten. Dass Schulen oder Heime aufgaben, weil ein Jugendlicher unverbesserlich schien. Und es keinen Platz mehr gab, der sie auffing. Lange schon spukte daher die Idee durch seinen Kopf, ein eigenes Heim aufzubauen. Zehn, 15 Jahre lang. Immer wieder redet er mit seinem Regensburger Freund Siegfried Hofer darüber, ganz theoretisch, bis die beiden 2012 tatsächlich Ernst machten: In einem alten Hotel in Dachau eröffneten sie ein Zuhause für 14- bis 18-Jährige. In dem Jugendliche Respekt und Anerkennung erfahren sollen. Begeistert führt Hofer durch die Fitnessräume im Keller, die hellen Zimmer, die Aufenthaltsräume, in denen die Jugendlichen Billard oder Schach spielen. Friedlich wirkt es, auch wenn man ahnt, dass bei einigen der Jungs die Stimmung schnell umschlagen kann. „Das muss man aushalten“, sagt Hofer, schließlich seien die Jugendlichen genau deswegen da, weil sie Probleme haben. Hofer ist heute pädagogischer Leiter der Einrichtung, Benede kümmert sich um das Organisatorische. Seinen Job bei der Polizei samt sicherem Beamtenstatus hat Benede dafür aufgegeben. Jetzt sitzt er schon morgens um sechs mit den Jugendlichen beim Frühstück, hört sich ihre Sorgen und Probleme an, vermittelt Praktika und Lehrstellen, ist da. So wie die Schwestern, mit denen er immer noch Kontakt hat, früher für ihn da waren. Auch das: keine leichte Aufgabe. „Aber“, sagt Carlos Benede, „eine sehr erfüllende“.

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