Geschichte(n)
Erziehung mit Kochlöffel auf dem Hintern

Alexander Metz erzählt in seinen Erinnerungen vom Biegen und Brechen trotzigen Kinderwillens – und was man alles sammeln kann.

19.08.2015 | Stand 16.09.2023, 7:02 Uhr
Alexander Metz
Alex beim Spielen auf der Luitpoldhöhe mit der Tochter vom Onkel Otto −Foto: Metz

Die Blätter für den Tee sammelte Mama im Frühjahr, legte auf dem Holzstapel im Speicher ein Zeitungspapier aus und trocknete sie darauf. Sie füllte mit den getrockneten Blättern große Einmachgläser, die sie entsprechend ihres Inhalts beschriftete.

Hagebutten wurden im Herbst gesammelt. In Altenstadt draußen. Mama setzte sich vor das sonnige Fenster zum Dornbergerl und schnippelte, während sie die Herbstsonne genoss, mit einem kleinen Küchenmesser die Enden der roten Früchte ab, halbierte sie und entfernte die flaumigen Kerne, die ich gerne als Juckpulver gegen die Mädchen einsetzte. Einen Teil des Fruchtfleischs verarbeitete sie mit Hilfe des gusseisernen Fleischwolfs zu Marmelade, einen anderen Teil setzte sie in einem mächtigen Glasballon mit Hefe und Wasser an, um daraus Wein zu brauen. Der Ballon stand wochenlang am Sonnenfenster und blubberte vor sich hin, bis sein süßer Inhalt in Limoflaschen abgefüllt werden konnte.

Ich durfte das Ergebnis auch einmal probieren, aber nur daran nippen. Mama reichte den Beerenwein am Abend ihren Gästen, die zum Ratschen kamen. Auch unser Postbote wurde jedes Mal, wenn er einen Brief vorbeibrachte, mit einem Gläschen Beerenwein beglückt.

Die Schlehen vom Galgenberg

Schlehen wuchsen in rauen Mengen auf dem Galgenberg, draußen in Altenstadt. Bevor sie verarbeitet werden konnten, mussten sie den ersten Frost erfahren haben. Aus ihnen machte Mama Likör und Wein. Die beste Medizin für den Winter, meinte sie. Die schwarzen Beeren schmeckten unverarbeitet so bitter, dass es einem den Mund zusammenzog und man ein Gesicht wie ein Indianerschrumpfkopf bekam.

Im Mai, wenn der Holunder blühte, zupfte die Mama die weißen Blütenrispen vom Strauch oben am Ödenturm, wusch sie zuhause, tauchte sie einzeln in einen Pfannenkuchenteig und backte sie dann im heißen Fett in einer gusseisernen, schwarzen Bratpfanne aus. Diese Hollerkiachln (Holunderküchel) bestreute sie vor dem Essen mit Zimt und Zucker. Ich liebte diese Frühjahrsdelikatesse über alles.

Genauso gern mochte ich Mamas Vögerl. Die gab’s zur Kirchweih. Ein Hefeteig mit Weinbeeren wurde mit einem großen Esslöffel zu kleinen Kugeln ausgestochen und wie Krapfen im schwimmenden Fett herausgebacken. Diese unförmigen Gebilde schmeckten in jedem Fall viel besser als sie aussahen.

Im Sommer machte die Mama auch Essiggurken selbst ein. Sie kaufte die kleinen Gurken auf dem Markt, reinigte sie, legte sie zusammen mit Kräutern sorgsam in große Gläser, die sie einmal in dem Haushaltswarengeschäft an der Ecke Alruna-Schwanenstraße gekauft hatte, und übergoss sie mit einem kochend heißen Essigwasser mit den Worten: „Geh ma ausm Weg, dass i di net vabria!“

Nicht jedes Jahr, habe ich als Kind gelernt, blühen die Tannen. Wenn sie also die neuen grünen Triebe ansetzten, war es Zeit, selbige abzuzupfen und für den Tannenspitzenhonig zu sammeln. Die frischen hellgrünen Zweiglein wurden in Zuckerwasser zu einem Sirup verkocht und nach dem Abseihen in Schraubgläser für den Winter aufbewahrt. Tannenspitzenhonig war das Geheimrezept der alten Babett gegen Husten und Bronchitis.

Es war aber streng verboten, die Tannen ihrer frischen Triebe zu berauben. Mama und ich taten es trotzdem, unter dem Motto „der nächste Winter kommt bestimmt“, und wurden oben auf dem Lamberg prompt vom Förster auf frischer Tat ertappt. Er hielt eine Standpauke, ließ aber, wahrscheinlich wegen Mamas treuem Hundeblick, Milde walten und uns mit dem bereits Gepflückten tief beschämt von dannen ziehen. Der nächste Winter konnte also Einzug halten.

Biegen oder Brechen, das war das Motto bzw. die Erziehungsmethode, wie man mit einem Buben im Trotzalter umzugehen hatte. Diese damals gängige Theorie wurde vom Großvater auf den Vater und von diesem wiederum auf den Sohn übertragen und in der Praxis auch angewandt.

Meine Mama wusste es nicht besser. Von ihrem Vater, einem einfachen Holzfäller, hatte sie mitbekommen, dass man einen trotzigen Baoum richtig verdreschen muss, damit aus ihm kein Verbrecher wird. Und damit die Wirkung der Strafe nicht verfehlt wurde, schlug man Buben grundsätzlich mit einem Kochlöffel, einem Teppichklopfer, einem Rohrstock oder dem Hosengürtel, wenn’s sein musste auch auf den nackten Hintern. So mancher Schlaumeier hätte sich sonst vor dem Strafvollzug rechtzeitig ein Schläge milderndes Polster in die Lederhose gesteckt.

Die Schläge vom Vater

Die körperliche Züchtigung oblag dem Vater, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Die übliche Drohung lautete: „Woat nur, bis da Vadda kimmt!“ Als die Männer im Krieg waren, übernahmen immer mehr die Mütter diese erzieherische Aufgabe.

Ich erinnere mich noch genau an die Zeit, ich war so ca. drei Jahre alt, da ich das kindliche Paradies verließ und meinen Willen erprobte. „I mog net“ war das Schlüsselwort, das urplötzlich meine kindlich heile Welt in eine grausame Hölle verwandelte.

„I mog net“, sagte ich völlig unbedarft, weil ich irgendetwas nicht mitzumachen gewillt war, weil ich einfach keine Lust hatte, sei es, dass ich mich gegen einen Spaziergang wehrte oder etwas nicht essen wollte. „Wos host gsagt?“, hakte die Mama aufgebracht nach. Ich spürte, dass ich in diesem Moment nicht mehr ihr „Liewerl“ war, wie sie mich nannte, wenn ich mich lieb und gehorsam zeigte. „Sog des no amoi!“ , drohte sie.

Ich nahm diese Aufforderung an, stampfte mit dem Fuß auf den Boden und wiederholte trotzig: „I mog net!“ Nun watschte sie mich ab, begleitet von einer Schimpfkanonade: „Du Hundskrippel, du verreckter! Du Sau-fratz, du mistiger!“ Noch war mein Wille nicht gebrochen. Ich bog mich nicht einmal, schon gar nicht körperlich, sondern heulte laut auf und bekräftigte nochmals schluchzend, dass ich nicht mag. Jetzt holte die Mama den Kochlöffel aus der Küchenschublade und schlug auf mich ein.

Es waren nicht die Schläge, die meinen Körper trafen und mich verletzten. Es waren vielmehr die Schläge, die ich in meiner Seele verspürte. Die Demütigung und das hilflose Ausgeliefertsein. Vor allem aber quälte mich die Angst, nicht mehr geliebt zu werden. Die Mama mag mich nicht mehr und mein Schutzengel weint. Die Tränen rannten mir über die Wangen bis in den Mund. Sie schmeckten nach Salz. Ich weinte bitterlich und solange, bis nur noch ein leeres Zucken meinen Körper durchströmte und keine Träne mehr aus meinen Augen quoll.

Dieses grausige Schauspiel wiederholte sich von nun an immer wieder, bis ich schon alleine beim Anblick des erhobenen Kochlöffels aufgab, was ich tat oder zu tun beabsichtigte. Ich habe gelernt, mich zu biegen, mein Wille aber wurde nicht gebrochen.

„Kimm raaf! Und zwar sofort. Wir müassn zur Frau Doktor Riedel“, rief meine Mama zum Fenster runter. Solche Befehle hatten unmittelbar, sofort und ohne Widerrede ausgeführt zu werden, wollte ich eine Schimpfkanonade oder gar einen Watschnbaum vermeiden.

Ein Besuch bei Frau Doktor Riedel, unserer Hausärztin, die ihre Praxis erst neben dem Rathaus, dann in der Rosenstraße hatte, war fast einem Staatsbesuch gleichzusetzen. Meine Mama zog sich und mir vor so einem Arztbesuch frische Wäsche an, mitten unter der Woche, wobei sie mich vorher mit dem Wachlappen von Kopf bis Fuß gründlich abrubbelte. Was ich absolut dick hatte, weil der Lappen rau und das Wasser kalt war und die Königinkernseife in den Augen biss.

Den Kopf im Treppengeländer

Die Mama hatte mit dem Herzen zu tun. Und ich war schuld daran, weil ich sie immer so aufregte, wie sie behauptete. Bei jedem Besuch hörte die Frau Doktor Mamas Brust mit dem Stethoskop ab, das in meinen kindlichen Augen ein Mordinstrument war, sagte dann etwas, was ich nicht verstand, und machte mir Angst, wenn sie eine Spritze aufzog, um damit meine Mama zu piksen.

Schon als Kleinkind, der Sprache kaum mächtig, regte ich mich furchtbar auf und rief weinend aus Angst, sie könne meine Mama umbringen: „Nicht stech stech machen! Nicht stech stech!“

„Kimm glei!“, meldete ich zurück, nachdem meine Mama mich gerufen hatte und schoss um die Ecke hinein ins Haus und die Treppe hinauf. Ich weiß nicht, welcher Schalk mich diesmal ritt, dass ich gerade jetzt auf die Idee kam, meinen Kopf zwischen zwei Speichen des Stiangglanders noch vor dem ersten Absatz zum Rückgebäude stecken zu müssen.

Es war ein Leichtes, den Kopf hindurchzuschieben, ihn zurückzuziehen aus den Speichen, aber war mir unmöglich. Panik! Hilfe rufen? Einfach nur schreien? Oder lauthals weinen? Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stemmte mich mit beiden Armen mit aller Kraft gegen die hölzernen Säulen. Sie gaben keinen Millimeter nach. Mein Kopf steckte fest.

Ich kniete auf der Treppe wie ein Gauner auf dem Schandpfahl. Ich weiß nicht, was mich mehr plagte, die Gefangenschaft oder die potenzielle Strafe, die ich erwartete, weil ich nicht sofort nach Hause kam. Und welche Ausrede sollte ich diesmal benutzen, um meine missliche Lage zu erklären?

Gerade hatte ich mich durchgerungen, einfach nur herzerbarmend zu weinen, da erschien meine Pflegemutter auch schon oben auf dem Balkon des Treppenhauses.

„Ja, wo bleibst denn bloß?“, fragte sie erst ungeduldig mit ihrer tiefen Stimme, erkannte aber sogleich den Ernst der Lage, flog geradezu die Stufen hinab zu mir und befreite mich aus den Gitterstäben.

Sie hatte erkannt, weil meine Mama ja eine ganz schlaue war, dass der Abstand der beiden Säulen oben, wo ich meinen Kopf eingefädelt hatte, breiter war, als unten, wo ich stecken blieb. So hob sie mein Köpfchen behutsam an und zog es oben ohne Widerstand heraus. Sie schimpfte mich nicht einmal, sondern sagte nur, fast in einem Mitleidston: „Baou, was hastn jetzat wieda ogstellt!“

Die Frau Doktor Riedel

Der Besuch bei der Frau Doktor Riedel in der Rosenstraße war diesmal wegen mir abgesprochen. Sie sollte mich im Auftrag meiner Mutti, also meiner echten Mutter, von Zeit zu Zeit untersuchen, um meinen Gesundheitszustand zu überprüfen und mein Wohlbefinden zu bestätigen. Die Frau Doktor stellte diesmal fest, dass ich etwas blass und schwach aussehen würde, und verschrieb mir etwas, was ich ihr nie vergessen werde, weil es so gut nach Kakao schmeckte, dass ich es auf einen Sitz verputzte: eine Schachtel Calcipot Cacao Kautabletten.