Tabuthema
„Mein Kind ist gestorben — Warum?“

Martina Gogeißl aus Grafenwiesen hat den Suizid ihrer Tochter mit einem Buch verarbeitet — und will dadurch anderen helfen.

08.10.2016 | Stand 16.09.2023, 6:44 Uhr
Jenny Gogeißl −Foto: Gogeißl

Ein Tag kann das ganze Leben verändern – ein Tag, an dem das erste Kind zur Welt kommt, an dem man den Grundstein für sein eigenes Haus legt oder einen geliebten Menschen verliert. Martina Gogeißl erinnert sich an jede Einzelheit des 3. Januar 2011; es war der Tag, der ihr Leben völlig unvorbereitet zu einem Scherbenhaufen zusammenbrechen ließ und aus der lebenslustigen Mutter eine zutiefst verletzte und depressive Frau machte.

Heute, fünf Jahre später, hat sie ihren Weg ins Leben zurückgefunden. Sie tanzt wieder, lacht mit ihren Freunden. Wie sie das geschafft hat, erzählt die 48-Jährige in ihremBuch „Warum? Mein Kind ist gestorben“.

„Ich ging die Treppe hinauf und sah, dass sie ein Seil um den Hals hatte.“ – Martina Gogeißl ist diejenige, die ihre 15-jährige Tochter Jenny nach ihrem Suizid findet. Für sie kommt jede Hilfe zu spät. Für Jennys Familie und Freunde bricht eine Welt zusammen. Über allem schwebt eine Frage: „Warum?“

„Ich gebe keinem die Schuld an ihrem Tod – außer Jenny selbst. Sie hat nicht an die Konsequenzen gedacht.“Martina Gogeißl

Depression, Angst, Suizidgedanken

Die Mutter spürt diese Konsequenzen am eigenen Leib: Verwirrung, Verleugnung, Depression, Angst, unvorstellbare psychische Schmerzen, Schlafstörungen, Selbstmordgedanken. Sie hat lange Zeit keine Energie, ist antriebslos, raucht und trinkt zu viel. Der rettende Aufenthalt in der psychosomatischen Klinik kommt erst nach einem Jahr – ihre Krankenversicherung sah bei ihr keinen Bedarf für eine psychologische Behandlung. „Ich war fassungslos und dachte: Wer, wenn nicht ich, hat ein Anrecht auf einen Psychologen?“

Sie verbringt schließlich drei Monate am Chiemsee, ein Jahr später drei Monate in Regensburg. Durch das Gespräch mit den Patienten und Therapeuten findet sie zu sich selbst und fasst neuen Lebensmut. Aber kaum ist sie wieder zuhause, kommen Enge, Angst und Trauer mit voller Wucht zurück. Deshalb reist sie viel, verbringt die Zeit an Seen in der Umgebung und fängt an, zu schreiben. Auch, weil ihre Tochter sie im Traum dazu gedrängt hat. Sie hat dabei geweint, geschrien und gelacht – und dabei ein Stück ihrer Seele zurückgewonnen.

Anderen ins Leben zurückhelfen

Um Antworten darauf zu finden, ist Martina Gogeißl viel in ihrem Heimatland Tschechien herumgefahren, hat sich mit Müttern ausgetauscht, die auch ihre Kinder an den Freitod verloren haben. Was sie auf ihre Reise gefunden hat? Liebevolle Eltern, aufgeräumte Häuser, Kinder ohne Depressionen. „Die Leute müssen wissen, dass es jedem passieren kann“, fordert die gebürtige Tschechin. Jeder habe Vorurteile, wenn er vom Selbstmord eines Jugendlichen hörte. Da habe es bestimmt Probleme daheim gegeben oder in der Schule habe es nicht gepasst. Diese Vorurteile auszuräumen und vor allem das Tabu zu brechen, nicht über solche Dinge zu reden, das hat sich Martina Gogeißl zur Aufgabe gemacht.

„Väter trauern anders und reden nicht über ihren Schmerz.“Martina Gogeißl

Die Entscheidung, wieder zu leben

„Irgendwann stand ich vor zwei Möglichkeiten: leben oder nicht leben“, erzählt die Autorin. Obwohl sie mit dem Gedanken gespielt hat, ihrer Tochter nachzufolgen, konnte sie ihrer Familie nicht noch mehr Leid zufügen. Also hat sie sich dazu entschieden, wieder zu leben – und zwar so, wie sie es vor Jennys Tod tat, „denn das hätte meine Tochter gewollt.“ Sie hat gelernt, jeden Moment zu genießen und nichts als selbstverständlich anzusehen, denn von heute auf morgen könnte sich alles ändern: „Hätte ich etwas ahnen können, dann hätte ich jeden Tag ‚Ich liebe dich‘ zu meiner Jenny gesagt.“

„Ich lebe, ich lache, ich tanze – und ich will, dass andere das auch schaffen.“Martina Gogeißl

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