MZ-Serie
Beim Kartoffelschälen lernte sie Texte

Bayerische Originale: Maria Singer stand bis ins hohe Alter als Schauspielerin auf der Bühne. Mit einer Ohrfeige fing alles an.

15.07.2015 | Stand 16.09.2023, 7:05 Uhr
Maria Singer war eine Charakterdarstellerin. Sie spielte aber auch gern komische Rollen. Der Spagat zwischen Brecht und Komödienstadel (hier mit Max Grießer) war für sie kein Problem. −Foto: BR/Foto Sessner

Noch mit 85 Jahren spielt sie am Münchner Volkstheater, die Rolle könnte nicht besser passen: Maria Singer verkörpert das „hohe Alter“ in Nestroys „Der Bauer als Millionär“. „Wenn man auf der Bühne steht, hat man keine Schmerzen“, sagte sie damals im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. Beim Spielen spüre sie ihr Alter nicht. „Danach hatscht man dann wieder“, fügte sie noch trocken hinzu.

1914 wird Maria Singer in Ebenzweier in Österreich geboren. Ihr Vater, ein Bahnbeamter, hatte sich eigentlich einen Sohn gewünscht. Er erzieht seine Tochter mit Härte, Tränen beim Desinfizieren der aufgeschlagenen Knie sind für die Kleine tabu. Mit zehn Jahren zieht Maria mit ihrer Familie nach Salzburg um, weil der Vater versetzt wird. Das Mädchen geht dort aufs Mozarteum und bekommt eine Gesangs- und Sprecherziehung.

Auftritt mit Nachhall

Als sie 1931 im Alter von 17 Jahren bei einer Jedermann-Aufführung als Statistin mitspielt, verändert eine Ohrfeige ihr Leben: „Ich hatte nur den einen Satz zu sagen: Ei was, wenn’s regnet ist’s nass“, erzählt Maria Singer später. Nach diesen Worten muss sie einem Komparsen eine schallende Ohrfeige verpassen. Als bei einer Probe Regisseur Max Reinhardt persönlich zuschaut, sind alle aufgeregt, auch Maria. Sie verteilt die Ohrfeige mit solcher Wucht, dass die Probe kurz unterbrochen werden muss. Der Getroffene hält sich jammernd die Backe, das Ensemble amüsiert sich. Max Reinhardt ist von diesem Auftritt so beeindruckt, dass er Maria noch am selben Abend an seine Theaterschule holt und ihr sogar die Gebühren erlässt.

Ihr erstes Engagement führt die junge Singer 1934 an die deutsch-polnische Grenze nach Schneidemühl. Dort lernt sie ihren Mann, den Schauspieler Hans Musäus kennen. Die beiden bekommen einen Sohn, Peter Musäus, der später ebenfalls Schauspieler wird. „Meine Mutter war eine sehr herzliche Frau“, erinnert sich ihr Sohn, der in München lebt, im MZ-Gespräch. Maria Singer gibt mit der Geburt des Kindes zunächst ihren Beruf auf. Als Hans Musäus in den Krieg ziehen muss, geht sie mit ihrem kleinen Sohn nach Österreich zurück zu den Eltern. Dort fällt ihr bald die Decke auf den Kopf. Weil ihre Mutter den Haushalt schmeißt, muss sich Maria Singer um nichts kümmern – und kehrt ans Theater zurück. Sie steht in Klagenfurt auf der Bühne, später auch in Tübingen, Kassel und Hannover.

1964 geht für sie ein Traum in Erfüllung: August Everding holt sie an die Münchner Kammerspiele. Dort spielt sie in Ödön von Horvaths „Geschichten aus dem Wienerwald“ und in Bertolt Brechts „Herr Puntilla und sein Knecht Matti“. „Die Kammerspiele waren das Aushängeschild für Schauspieler“, erinnert sie sich im Rückblick stolz. Sie tritt an der Seite von Therese Giehse auf – deren Rollen sie immer öfter übernimmt –, spielt mit Gustl Bayrhammer und Walter Sedlmayr. Als die ersten Dialektstücke inszeniert werden, wird sie von den Urmünchnern rigoros verbessert – bis sie sich nicht mehr österreichisch, sondern bairisch anhört. „Das war eine schöne Zeit“, sagt Maria Singer später.

„Meine Mutter war ein Arbeitstier“, erzählt ihr Sohn. Vormittags geht sie zum Proben ans Theater, mittags kocht sie für die Familie und versorgt den Haushalt. Zur Abendvorstellung kehrt sie wieder ans Theater zurück. „Texte hat sie beim Kartoffelschälen gelernt“, erinnert sich Peter Musäus.

Als Everding die Kammerspiele verlässt, ist das auch für Maria Singer eine Zäsur. Sie ist unter der neuen Leitung nicht mehr so gefragt. Eine Enttäuschung, die die Schauspielerin mit der für sie typischen Disziplin und Unbeugsamkeit meistert. Sie tritt viel in Fernsehserien auf. „Polizeiinspektion 1“, „Der Alte“, „Derrick“, „Kir Royal“, später auch „Der Bulle von Tölz“ – überall ist sie dabei. Auch im Komödienstadel ist sie zu sehen. Der Spagat zwischen dem ersten und dem komischen Fach ist für die Charakterdarstellerin eine willkommene Abwechslung. Besonders gern arbeitet sie mit Franz Xaver Bogner.

Gartenarbeit und deftiges Essen

Ein Mensch mit viel Humor, sei sie gewesen, erzählt ihr Sohn. „Sie hat gern gelebt, deftig gegessen und mit Genuss ein Bier getrunken“, fügt er hinzu. 1968 habe die Familie ein Haus mit großem Grundstück in Niederösterreich gekauft. „Gartenarbeit hat meine Mutter geliebt“, so Peter Musäus. „Blumen pflegen, umgraben, Rasenmähen – sie konnte einfach nicht im Liegestuhl sitzen und sich ausruhen.“ Jammern tut Maria Singer auch im Alter nicht, obwohl ihr die Knie wehtun. Die Schauspielerin, die in Aschheim bei München wohnt, arbeitet auch mit Mitte 80 voller Leidenschaft. Die letzten zwei Jahre ihres Lebens verbringt sie in einer Einrichtung für betreutes Wohnen. 2003 stirbt Maria Singer mit 89 Jahren, Sohn Peter ist bei ihr: Sie schläft friedlich ein.