Interview
„Ohne Maria ist nichts mehr, wie es war“

Lange hat Familie Baumer geschwiegen, um sich und die Ermittlungen zu schützen. Jetzt spricht sie erstmals über ihre Trauer.

25.05.2017 | Stand 16.09.2023, 6:32 Uhr

Vor fünf Jahren verschwand Maria Baumer, 16 Monate später wurde sie tot aufgefunden. Bis heute weiß ihre Familie nicht, was ihr zugestoßen ist. Inzwischen stehen die Ermittlungen aber kurz vor dem Abschluss.Foto: MZ-Archiv

Vom Garten der Familie Baumer aus kann man auf den Kirchturm schauen. Man hört die Glocken schlagen. Hört, wie die Zeit vergeht. Für die Baumers sind aus Stunden Tage geworden, aus Tagen Monate und aus Monaten Jahre. Fünf Jahre sind es am 26. Mai, dass ihre Tochter Maria verschwand. Am Anfang war Hoffnung, dass sie zurückkehren wird, dann Trauer über ihren gewaltsamen Tod, dann kam die Ungewissheit, warum das alles geschah. Quälende Fragen, die bis heute niemand beantwortet hat. In der Kirche in Muschenried wollte Maria Baumer heiraten. Stattdessen wurde hier das Requiem für sie zelebriert. Der Mensch, der der 26-Jährigen gewaltsam das Leben nahm, hat mehrere Leben zerstört. Und doch, sagen die Baumers, muss es irgendwie weitergehen.

Maria Baumers Mutter, die ebenfalls Maria heißt, stellt Nussecken, Obstkuchen und frische Küchel auf den Terrassentisch. Küchel, sagt Marias Zwillingsschwester Barbara, haben sie schon als Kinder mit Mama und Oma gebacken. Sie hatten eine große Freude daran, das traditionelle Gebäck auszudrehen und zuzuschauen, wie es im heißen Fett ausgebacken wird. Auch später standen die Schwestern oft gemeinsam in der Küche. Backten für die Landjugend, für Feste im Ort. Glückliche, unbeschwerte Tage, die es so nicht mehr geben wird. Marias Tod hat einen grauen Schleier über die Familie gelegt. Nach außen wirkt sie gefasst, hat sich einen dicken Schutzpanzer zugelegt. Niemand soll sehen, was in den Eltern und Geschwistern vorgeht.

Man hat uns ja noch nicht einmal an Marias Grab in Ruhe gelassen.Barbara Baumer

Diese öffentliche Neugierde, der sie nun schon so lange ausgeliefert sind, hat sie gelehrt, ihre Gefühle gut unter Kontrolle zu halten. Die ersten Journalisten standen schon vor der Tür, als sie die engsten Angehörigen noch nicht über Marias Tod informiert hatten, erzählen die Eltern. „Man hat uns ja noch nicht einmal an Marias Grab in Ruhe gelassen“, sagt Barbara Baumer. Fremden gegenüber verhält sie sich seitdem äußerst reserviert. Die Familie äußerte sich auch nicht mehr, wenn Unwahres in der Zeitung stand. Bis jetzt, wo sich wohl bald entscheiden wird, ob der ungeklärte Tod von Maria vor Gericht kommt.

Wie in einer heilen Welt

Muschenried wirkt wie eine heile Welt, in der die Zwillingsschwestern mit ihren drei älteren Brüdern aufwuchsen. Der Vater führt eine Steuerkanzlei, die Mutter ist kommunalpolitisch aktiv, arbeitet in Gremien der katholischen Kirche mit und in den Vereinen. Die Zwillingsmädchen haben ein sehr enges Verhältnis zueinander. Beide sind lebhaft, frech und zielstrebig. Maria noch mehr als Barbara. Schon als Kind habe sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und eine sehr direkte Art an den Tag gelegt, erzählt die Mutter. In der zweiten Klasse sei sie mit der Klassenleiterin aneinandergeraten, weil diese wissen wollte, warum sich Maria von ihrer Mutter ein vergessenes Heft in die Schule bringen ließ. Darauf habe sich Maria mit den Worten „das geht dich gar nichts an“ abgewendet. Erinnerungen, die den Eltern ein Lächeln ins Gesicht zaubern. „Ja, so war unsere Maria“, sagt die Mutter.

Die Schwestern besuchten das Gymnasium in Oberviechtach, engagierten sich in der Katholischen Landjugend. Beim Weltjugendtag in Köln bauten sie am Projekt einer Solarkirche mit. Maria, die Mutige, stieg aufs Dach. „Der Opa ist Zimmermann und darum könne sie das auch“, hatte sie ihren Eltern erklärt. Sie hätte sich das auch nicht ausreden lassen, sagt die Mutter. „Sie war schon immer ein Sturschädel“, sagt die Schwester.

Maria wollte Medizin studieren. Doch der Numerus clausus stand ihr im Weg. Sie begann eine Ausbildung zur Krankenschwester, brach sie aber kurz darauf wieder ab, um in Bayreuth Geoökologie zu studieren. „Das war nicht ihre erste Wahl, aber sie hat sich arrangiert, war fleißig und hat das bis zum Master durchgezogen“, sagt der Vater Alois Baumer. „Sie hat sich auch gefreut, dass sie sofort eine Arbeitsstelle fand.“

„Sie haben sich gut ergänzt“

Auch die Beziehung zwischen Maria und dem Krankenpfleger Christian schien glücklich zu sein. Barbara Baumer sagt, dass sich das Paar gut ergänzt habe. „Christian war der ruhigere Part, der gut mit Marias forscher Art umgehen konnte.“ Es habe auch mal Streit gegeben, der sich aber meist rasch gelegt habe. „Maria konnte wütend werden, aber im nächsten Moment war alles wieder gut. Sie war nie nachtragend“, sagt die Zwillingsschwester.

Ein Streit. Oft haben sich die Baumers gefragt, ob das der Auslöser für die Katastrophe war. In den 16 Monaten, in denen Maria vermisst wurde, beherrschte der Gedanke ihr Handeln. Der Verlobte bestritt, dass etwas vorgefallen war. Weil sie ihm glaubten, suchte die Familie nach anderen Erklärungen – auch bei sich selbst. Aber sie fanden nichts. Maria hatte doch immer deutlich gesagt, wenn ihr etwas nicht passte. Beim letzten Anruf, zwei Tage vor ihrem Verschwinden, hatte sie keinerlei Andeutungen gemacht, dass etwas nicht in Ordnung wäre. Sicher war sich die Familie, dass Maria sich nichts angetan hatte. „Deshalb habe ich sie auch dafür verantwortlich gemacht, dass es Christian nach ihrem Verschwinden so schlecht ging. Es gab Momente, da war ich wütend“, sagt die Schwester.

Bei diesem Gedanken, rinnen der jungen Frau die Tränen übers Gesicht. Das Gefühl, sich für jemanden eingesetzt zu haben, der möglicherweise mit dem Verschwinden und Tod von Maria zu tun haben könnte, hat tiefe Spuren bei der 31-Jährigen hinterlassen. Sie könne nur noch schwer Vertrauen fassen, sagt Barbara Baumer. Da gibt es aber auch den Zwiespalt. Die Zweifel, dass vielleicht nichts so war, wie es scheint. Was, wenn Polizei und Staatsanwaltschaft, die schon kurz nach dem Verschwinden gegen den ehemaligen Verlobten ermittelten, doch falsch liegen? „Was, wenn Christian entgegen aller Indizien unschuldig ist?“, fragt Barbara Baumer und kämpft erneut mit Tränen. Die Mutter streicht ihr beruhigend über den Rücken. „Man fühlt sich einfach nur hilflos“, sagt sie. Wer ein Verbrechen begehe, bekomme einen Verteidiger an die Seite gestellt. „Aber wer kümmert sich um die Opfer? Sie müssen viel Geld für einen Anwalt in die Hand nehmen, damit sie überhaupt Akteneinsicht erhalten und ihre Interessen vor Gericht vertreten werden.“

Das Thema brennt der Familie auf den Nägeln, seit sie im November in den Zuschauerreihen des Landgerichts Regensburg saß und den Missbrauchsprozess gegen Marias früheren Verlobten verfolgte. Die Taten waren im Zuge der Ermittlungen um Maria ans Licht gekommen. Erst schwieg der Krankenpfleger. Als man ihm eine Bewährungsstrafe in Aussicht stellte, räumte er den Missbrauch zweier Schüler des Domspatzen-Gymnasiums ein. Sexuelle Handlungen, die auch noch stattfanden, als er bereits mit Maria über eine Hochzeit sprach. „Er konnte uns nicht in die Augen schauen“, sagt Marias Mutter. „Ein einziges Mal hat er es getan und sofort den Blick gesenkt.“ Im Gerichtssaal erfuhren Marias Angehörige auch, dass Christian Gefühle für eine junge Patientin am Bezirksklinikum entwickelt hatte, der er, wie er ebenfalls gestand, bei einem Treffen ein Beruhigungsmedikament verabreichte. Was das alles mit dem Tod von Maria zu tun haben könnte, haben sich die Baumers gefragt. Auch die Polizei hat diese Fragen gestellt. Zu welchem Ergebnis sie kam, wissen die Baumers nicht.

Marias Mutter holt die Kerze aus dem Wohnzimmer, die sie für das Requiem gestaltet hat. In der Mitte ist ein silbernes Kreuz. Ein solches Kreuz hatte Maria um den Hals getragen. „Immer“, sagt die Mutter. Anderen Schmuck habe sie auch mal abgelegt, auch den Verlobungsring, aber die Kette nie. Auch deshalb ließ die Familie die 26-Jährige mit einem Foto suchen, auf dem der Anhänger gut zu erkennen war. Als Marias sterbliche Überreste gefunden wurden, war die Kette mit dem Kreuz nicht mehr bei ihr. Sie ist bis heute verschwunden.

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Das Kreuz, Zeichen für Marias gelebten Glauben, war von Anfang an ein Ansatz, den auch die Polizei ernst nahm. Sie ermittelte in einem Kloster und als Zeugen sich nach einem Beitrag in „Aktenzeichen xy ungelöst“ meldeten, die Maria auf dem Jakobsweg bei Gevelsberg gesehen haben wollten, wurde auch dort intensiv ermittelt und sogar mit Mantrailerhunden nach ihr gesucht. „Bis heute verstehe ich nicht, wie sich die Zeugen so sicher sein konnten“, sagt Alois Baumer. Nie habe Maria den Wunsch geäußert, den Jakobsweg zu laufen. Doch die Familie klammerte sich an diesen Hoffnungsschimmer. Was sollte sie auch sonst tun. Maria hatte sich ja nicht gemeldet, nicht an Weihnachten und nicht an ihrem Geburtstag im Januar. „Doch jeglichen Gedanken, dass Maria nicht mehr am Leben sein könnte, haben wir uns verboten“, sagt Barbara Baumer, während sie sich ganz aufrecht im Gartenstuhl zurechtsetzt und ihre gelbe Jacke straff zieht. Sie will Haltung demonstrieren, in diesen Momenten, die ihr besonders nahe gehen.

Doch jeglichen Gedanken, dass Maria nicht mehr am Leben sein könnte, haben wir uns verboten.Barbara Baumer

Dann erzählt sie von den Zweifeln, die es gab. Das abgeschlossene Studium, der erste Job als Windanlagengutachterin, die Wahl zur Landesvorsitzenden der Katholischen Landjugend in Bayern, wenige Tage vor ihrem Verschwinden – „das macht man doch nicht, wenn man weg will“, ergänzt der Vater. Das passte vor allem überhaupt nicht zur pflichtbewussten Maria, die nie einen Termin versäumte und die ihre Finanzen penibel regelte. Am 8. September, auf den Tag genau ein Jahr nach Marias geplanter Hochzeit und am Marienfeiertag „Maria Geburt“, wurde sie tot in einem Wald bei Bernhardswald gefunden. „Das Datum sagt mir, dass es Fügung war, dass sie an diesem Tag gefunden wurde“, sagt die Mutter. Jetzt hat die Familie zumindest ein Grab, an dem sie Maria nahe sein kann. Doch die Trauerarbeit braucht auch Antworten. Antworten, die der Täter nicht geben will.

Die Sonne senkt sich über Muschenried und legt die Dorfkirche in ein goldenes Licht. Auch Barbara Baumer will hier heiraten. Es soll ein glücklicher Tag werden. „Ich wünsche mir ein schönes Fest, auch wenn mir klar ist, dass es nicht so sein kann, wie früher. Denn nichts ist wie früher, weil Maria fehlt.“

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