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Das Garn, das einmal Milch war

The Milky Way: Die Mikrobiologin Anke Domaske aus Hannover produziert aus Restmilch Stoff mit Zukunft.

24.10.2015 | Stand 16.09.2023, 6:55 Uhr
Isabella Hafner
Die Milch macht’s: Diese Fäden aus dem Ausgangsstoff Kasein werden zu Garn versponnen und zu einem seidigen Stoff gewebt. −Foto: Qmilk

Abgelaufene Milch? Perfekt! Dann ist das Eiweiß schön flockig. Die Hannoveranerin Anke Domaske, 32, fügt natürliche Stoffe hinzu, das Ganze wird zum Teig geknetet und durch eine Art Nudelmaschine gedrückt. Heraus kommen Hunderte Spaghetti. Fast endlos. Weiß. Dünn wie Spinnweben. Im September kamen sie auf den deutschen Markt. Einige Textilfirmen werden daraus Stoffe weben, aus denen vielleicht die Zukunft ist. Stoffe, von denen Domaske sagt: „Zu hundert Prozent essbar.“

Der Bedarf an Baumwolle steigt – und die Umwelt leidet

Wo sollen all die Fasern herkommen, wenn die Menschen aus Schwellenländern, wie bereits jetzt zu sehen, auch noch in Shoppinglaune kommen? Oder wenn 2050 zehn Milliarden Menschen auf der Welt etwas zum Anziehen brauchen? Wird noch mehr Baumwolle produziert werden, deren wasserintensiver Anbau den Aralsee vom viertgrößten See der Welt in den 60ern auf ein Rest-Achtel schrumpfen lassen und Teile in Pestizid-Wüsten verwandelt hat? Oder noch mehr Chemiefasern aus Rohöl, das sein CO besser unter der Erde hielte.

Forscher tüfteln eifrig an Alternativfasern. Manche Modelabels haben Abteilungen eingerichtet, um selbst zu erfinden. Algen, Bananen-Fasern oder Buchenholz kann man bereits tragen. Mais, Soja und Krabbenschalen sollen folgen.

Die Idee ist alt, aber das Verfahren neu und umweltschonend

Eine Faser entstand – als Stoff leicht-fließend wie Seide, gleichzeitig Wärme und Feuchtigkeit regulierend wie Baumwolle. Mit höchstens einem Liter Wasser hergestellt. Wie bei Synthetik-Fasern können Pigmente direkt dem „Teig“ beigemischt werden. „Schwarz ist immer die giftigste Farbe. Außer mit Ruß.“ Preislich kommt das Kilo Milchfaser mit rund 25 Euro an die etwa drei Euro teure Baumwolle nicht ran, höchstens als Mischgewebe.

Madame Chi Chi, Qmilk und das Adrenalin

Für Domaskes Modelabel „Madame Chi Chi“, gegründet nach dem Abi, wurden bereits einzelne Milchkleider angefertigt. Richtig mit der Produktion startete Qmilk erst dieses Jahr. Mit 20 Mitarbeitern auf 1500 Quadratmetern. Die junge Chefin startet dort ihren Arbeitstag meist gegen sechs Uhr und geht erst um 21 Uhr. Auch am Wochenende. „110 bis 120 Stunden sind das“, schätzt sie. „Aber das fühlt sich nicht wie Arbeit an, eher wie ein Hobby – das ich als Beruf machen darf. Das treibt mich an. Ist wie Adrenalin.“

Der Konferenzraum ist tapeziert mit 19 Preisen und Ehrungen. Seit Mai hängt dort auch der Green Tech Award. „Das war eine Überraschung!“ Die Jury kürte „die Aufwertung eines Abfallprodukts zu einem wertvollen Rohstoff“ zu einer der besten Umwelttechnologien des Jahres. Denn: Es wird nur Milch verwendet, die nicht mehr den Lebensmittelrichtlinien genügt. Zum Beispiel weil Keime in der Milch waren, wegen Fehlchargen oder weil die Kühlkette unterbrochen war. In Indien ein großes Thema, wie Domaske sagt. Vorrang hat aber erst einmal der Aufbau eines Milch-Sammelsystems in Deutschland. Bei Supermärkten, Molkereien und Bauern soll im Zwei-Wochen-Rhythmus Milch abgeholt werden.

Die Jury war angetan, was aus Milch alles werden kann – vor allem, wenn man auch Granulat herstellt, wie Qmilk: Implantate, Baby-Spielzeug, Kosmetik, Verpackungsschaum, Papier mit Lotuseffekt. Die Auto-Industrie sei interessiert und der Kompressions-Strumpf-Markt „ist stark“. „Mein Traum der nächsten Jahre ist eine Wundauflage aus Milch.“ Mit eingearbeiteter Medizin.

Vom Faden über die Knöpfe bis zum Stoff – geht alles aus Milch

Roland Essel vom Nova-Institut, das zu nachhaltigen Rohstoffen forscht, sieht die Milchfaser als eine Zukunftsfaser unter vielen. „Die Frage ist, wie viel davon in einem Land erzeugt werden kann. Das ist bei der Milch wohl begrenzt.“ Und ob die Faser Luxus bleibt.

Die 32-jährige Anke Domaske lässt sich nicht beirren. „Mein großes Vorbild war Robert Koch. Ich wollte was gegen Aids oder Krebs entwickeln. Jetzt hab’ ich Qmilk. Wenn man mit der Erfindung mal was bewirken kann, ist das in Ordnung für mich.“ Mal schauen, wie viele bald mit der täglichen, dreifachen Portion Milch herum laufen? Vom Faden über die Knöpfe bis zum Stoff.