Dokumentation
Neun Ameisen auf Sauerrahm

Das Noma bringt den Geschmack der Natur auf den Teller. Mit Kinokarte darf man im besten Restaurant der Welt Platz nehmen.

08.02.2017 | Stand 16.09.2023, 6:37 Uhr
Spektakulär schlicht und zugleich eine typische „Esskalation“ aus dem Noma: Gurkenblätter und Crème fraîche, gewürzt mit Krabbeltieren −Foto: Pierre Deschamps

Pierre Deschamps hat im Noma einen Teller fotografiert, der durch eine zeitlose bäuerliche Schlichtheit wirkt. Auf kreidigem, beige-grauem Steingut ist ein zierlicher Strauß aus Gurkenblüten drapiert, daneben ein Klecks Sauerrahm. Schwarze Pünktchen kämpfen sich schwerfällig über den Rahmhügel: Ameisen, superfrisch!

René Redzepi begreift die Erde als essbaren Planeten und sein Restaurant Noma in Kopenhagen als Labor, das aus dem Reichtum der Natur schöpft – und sei der Reichtum, den die Eislandschaft bietet, auf den ersten Blick noch so frugal. Flechten, Fisch, Fichtennadeln: Alles, was in nordischen Gefilden wächst und lebt, kommt im Noma auf den Teller, und weitgehend auch nur das, abgesehen von Olivenöl aus der Toskana und ein paar anderen Unverzichtbarkeiten. „Die Menschen sollen die Jahreszeit und den Ort schmecken, in der sie sich befinden.“ Dieser Grundsatz hat den 39-Jährigen in den Olymp der Gastro-Szene geführt.

Wer 2003 im Netz nach dem Stichwort „nordische Küche“ fischte, zog null Treffer an Land. 15 Jahre später ploppt eine halbe Million Nennungen auf. Nordische Küche galt früher als Kopfgeburt von Kochkritikern. Heute wird sie gefeiert als Verheißung. Der Mann, der diese Entwicklung wesentlich befeuert hat, ist René Redzepi. Er besitzt einen intuitiven Zugriff auf Aromen. Ausgerechnet ein Migrant, Sohn eines muslimischen Einwanderers aus Mazedonien, hat dem Norden seine kulinarische Identität geschenkt.

Hochinformatives Augenfutter

Das Noma holte vier Mal den Titel „Bestes Restaurant der Welt“. Regisseur Pierre Deschamps hat das gastronomische Universum bereist und aus den Eindrücken dreier Jahre eine differenzierte, anregende Dokumentation angerichtet.

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Die Geschichte der vielleicht innovativsten Küche überhaupt wird überraschend konventionell erzählt. Das ist in diesem Fall kein Schaden. In „Noma“ geht’s nicht um Kino-, sondern um Kochkunst. Deschamps lässt Gefährten erzählen, er nimmt vor allem den Küchenchef und sein Team in den Blick. Und er gibt sich die Zeit für kleine philosophische Betrachtungen. „Essen ist eine Metapher für die Art, wie wir mit der Welt kommunizieren“, sagt da Redzepi etwa in die Kamera. „Er kocht kein Abendessen; er verändert die Welt“, resümiert Ferran Adrià („El Bulli“) über den Kollegen.

Sehen Sie hier: den Trailer zum Film „Noma“

Was schmerzlicher fehlt: Der Regisseur zoomt vergleichsweise wenig auf Töpfe und Teller, Augenfutter bleibt er schuldig. Seeteufel-Leber in karamellisierter Milch, gegrillter Fischkopf mit Seegras, Schweinehaut mit Schokolade, krosses Moos, vergorenes Blut – wie ölig, säuerlich, rauchig oder meerfrisch all die kruden Köstlichkeiten schmecken würden, kann man sich ohne Bilder kaum vorstellen.

Jetzt das Aber: René Redzepi ist ein charismatischer Typ, ein Meister der PR; er trägt den Film unbedingt. Noch ein Plus: Er hat eine wahre Geschichte zu erzählen, inklusive Fall und Aufstieg.

Mit 32 Jahren schoss der Däne wie eine Rakete an die Spitze; die Frage war nur noch: Wann geht’s zum Mond? „Erfolg kann limitierend sein“, sagt er heute. „Ich wurde ein trostloses Arschloch.“

Dann die Katastrophe: Im Februar 2013 erkrankten 63 Gäste am Norovirus, im März verweigerte Michelin den dritten Stern, im April verlor das Noma den Rang als weltbestes Restaurant. Redzepi reagierte radikal; er baute um, er ließ keinen Stein auf dem anderen. Die Kamera zeichnet die Depression im Zeitraffer nach, dazu wird Mozarts „Requiem“ gespielt – eine der suggestivsten Passagen im Film. Voller Sog auch das Finale, als das Team 2014 den Titel zurückholt. Der Zuschauer fiebert mit und ist erlöst, als es einer aus der Crew im Glückstaumel hinausbrüllt: „Wir sind das beste Scheißrestaurant der Welt!“ Yeah.

Aber: Die Welt ist nicht genug. Im Moment erfindet sich das Noma gerade wieder neu. Es gönnt sich ein Sabbatical und soll, an neuem Ort, aber immer noch in Kopenhagen, dieses Jahr wieder eröffnen. Das neue Restaurant soll Teil einer urbanen Farm sein, mit eigenen Feldern und einem Gewächshaus auf dem Dach.

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