Literatur
Sie scheiterte an ihren eigenen Ideen

Karin Struck war die Stimme einer Generation, bis sie sich immer mehr verlor. Zum 70. Geburtstag der 2006 gestorbenen Autorin

13.05.2017 | Stand 12.10.2023, 10:21 Uhr
Helmut Hein

Die Schriftstellerin Karin Struck (hier ein Archivfoto vom Oktober 1991) wäre am 14. Mai 70 Jahre alt geworden. Foto: dpa

Es gibt Bücher, die das Lebensgefühl, das Denken, den Weltbezug einer ganzen Generation entscheidend prägen, ja verändern. „Klassenliebe“ war in den frühen 1970er- Jahren eines dieser raren Ereignisse. Die junge Karin Struck begründete damit ein eigenes Genre, die damals vieldiskutierte „neue Subjektivität“, schuf mit dieser wüsten, autobiographienahen Text-Collage aber sehr viel mehr als „nur“ Literatur.

Die Heldin ihres „Romans“ ist unverkennbar ihr Double. Die Studentin verliebt sich in einen sehr viel älteren Mann, Z., hinter dem sich der charismatische politische Lyriker und, wie man in Bayern sagt, „Weiberer“ Arnfried Astel verbirgt. Karin Struck experimentiert viel, erotisch, sexuell, auch mit Drogen, erprobt neue Beziehungs- und Daseinsformen. Ihre Lektüren, die eher heftige, intensive Suchbewegungen sind, folgen Franz Kafkas Motto, Bücher könnten die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

Eine irrlichternde Existenz

Schon in „Klassenliebe“ ist sie, wenn auch noch nicht so drastisch wie später, eine Verlorene, eine, der allen Souveränitätsgesten zum Trotz hier auf Erden wohl nicht zu helfen war. Man konnte das in „Klassenliebe“ noch übersehen, weil sich ihre Protagonistin als Intellektuelle und politisch bewussten Menschen inszeniert, dessen Streben nach einem „Ort“ in der Welt, nach klaren Haltungen durchaus zeittypisch ist.

Das Irrlichternde ihrer Existenz hatte durchaus mit ihrer Herkunft zu tun. Karin Struck entstammte einer Bauernfamilie, die nach der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR 1953 – da war sie sechs – in den Westen floh. Ihr Vater freilich konnte in seinem alten Beruf dort nicht mehr Fuß fassen, arbeitete unter anderem als Eisengießer und in der Textilindustrie. Sie selbst studierte an wechselnden Orten, aber stets heimatnah Romanistik, Germanistik und Psychologie.

Als Bauern- und Arbeiterkind konnte Karin Struck in Zeiten der sich rasch entwickelnden Studentenbewegung eine exemplarische Biografie vorweisen. Sie zeichnete sich aber ansonsten durch eine bildungsbürgerlich-unersättliche Lust auf Wissen und eine urromantische Sehnsucht nach einem anderen Dasein aus. Die Rilke-Devise „Du musst dein Leben ändern!“ stand hinter allem, was sie tat.

Quelle der Lust: der eigene Körper

Struck veränderte ihr Leben in rascher Folge bis zur absoluten Haltlosigkeit. Mit ihrer Einsicht, dass all die Dinge, die sie als Frau betrafen, nicht nur ein „Nebenwiderspruch“ waren, der sich mit dem „Hauptwiderspruch“ (dem zwischen Kapital und Arbeit) schon von selbst erledige, wurde sie zu einer Mitbegründerin der neuen Frauenbewegung.

Ihr Feminismus war von Anfang an ganz eigen, weil sie ihren Körper nie nur als Schlachtfeld, sondern vor allem als Quelle der Lust und der Produktivität empfand. Dieses große Ja äußerte sich zunächst sexuell, in einer wilden Polygamie, später dann in einer archaisierenden Mystifizierung der Mütterlichkeit.

Mit „Klassenliebe“ wurde sie zu einer Zeit Suhrkamp-Autorin, in der dieser Verlag das literarische und geistige Leben in der alten Bundesrepublik dominierte. George Steiner sprach damals zutreffend von der „Suhrkamp-Kultur“. Und sie war bald „everybody’s darling“. Selbst der ansonsten eher skeptische österreichische Autor Peter Handke kommunizierte öffentlich mit ihr (via „Spiegel“).

Schon ihr zweites Buch „Die Mutter“ aber verstörte viele. In einem Moment, als die Familie „out“ war und Kinder eher als Hindernis und Problem galten – die „Bevölkerungsexplosion“ ist ein Slogan dieser Jahre –, feierte die einstige Bloch-Schülerin das Gebären und die Fürsorge als einzig erreichbare Formen des Paradieses. Die neue Karin Struck wollte sich nicht mehr auf den Sanktnimmerleinstag der sich in einer fernen Zukunft ereignenden Weltrevolution vertrösten lassen, setzte lieber auf Veränderungen im Nahbereich.

Es zeigte sich freilich bald, dass Karin Struck von ihren eigenen Konzepten überfordert war: literarisch und existenziell. Zunächst veröffentlichte sie noch in rascher Folge die Dokumente ihrer sich allmählich katastrophisch zuspitzenden Selbsterfahrung bei Suhrkamp; auf „Lieben“ (1977) folgte „Trennung“ (1978). Anfang der 1980er-Jahre aber zerstritt sie sich mit Siegfried Unseld, den als Verleger immer eine besondere Loyalität seinen Autoren gegenüber auszeichnete, weil dieser es gewagt hatte, ihre neueren Texte zu kritisieren.

Formulierungen nahe am Kitsch

Wenn man es positiv formulieren würde, könnte man sagen, Karin Struck war eine hochempfindliche Seismographin gesellschaftlicher Veränderungen. Realistischer ist vermutlich die Deutung, dass die ewig Heimatlose erst Teil einer Jugend-, dann der Frauen- und schließlich der Friedensbewegung sein wollte, dass sie ihr jeweiliges Engagement mit viel Pathos auspolsterte und mit den Jahren zunehmend das Gespür für das Kitschnahe vieler ihrer Formulierungen verlor.

Kein kritisches Korrektiv mehr

Spätestens mit der Trennung vom Suhrkamp-Verlag begann ihr langer, unaufhaltsamer Weg nach unten, weil ihr jetzt das kritische Korrektiv fehlte. Für kurze Zeit fand sie mit Alfred Knaus noch einen renommierten neuen Verlag und mit dem Verleger einen Mentor. Nach dessen Weggang aber tat sie sich immer schwerer, sich akzeptable Publikationsmöglichkeiten zu eröffnen.

Karin Struck, deren Bereitschaft zur erotischen und sexuellen Passion einst viele bezaubert hatte, wurde jetzt böse männerkritisch („Blaubarts Schatten“, 1991) und setzte sich immer intensiver mit Ingeborg Bachmann auseinander, mit der sie die Überzeugung einer „Zerstörung durch Männer“ teilte (so der Untertitel ihrer späten „Annäherungen“ von 2003). 1993 hatte sie bei Langen Müller bereits das als Roman maskierte Buch „Ingeborg B. – Duell mit dem Spiegelbild“ veröffentlicht.

Der Bruch mit der Vergangenheit wurde bei Karin Struck immer heftiger. Sie konvertierte zum Katholizismus und war zunehmend als Frau, die sich nicht zu benehmen weiß, verrufen. Nicht nur ihre Auftritte in Talkshows schmerzten; sie wurde mit der Zeit zur verachteten Außenseiterin des literarischen Betriebs. Wer dachte, sie sei bloß das Opfer einer Kampagne, weil sie unliebsame Meinungen vertrete, musste sich spätestens bei ihrem Regensburger Auftritt Anfang der 1990er-Jahre eines Schlechteren belehren lassen.

Karin Struck war noch nie eine entschiedene Abtreibungsbefürworterin gewesen. Jetzt führten eigene traumatische Erfahrungen verspätet dazu, dass sie sich den sogenannten „Lebensschützern“ anschloss, einer erschreckend aggressiven und argumentationsresistenten Gruppe militanter Abtreibungsgegnern. Karin Struck war auch vom Wohlmeinendsten nicht mehr zu helfen; viel zu früh, mit gerade 58 Jahren, starb sie am 6. Februar 2006 in München an Krebs.

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