nr. sieben
Schönheitsideale durch dick und dünn

Moppelchen oder Hungerhaken? Was ideal ist, bestimmt der Zeitgeist. Und der unterliegt Jahrhunderte hindurch dem Wandel.

02.04.2016 | Stand 16.09.2023, 6:50 Uhr
Harald Raab

Der Körper ist zur Projektionsfläche von phantastischen und meist total unrealistischen Wünschen und Träumen mutiert. Welche Figur gerade als schön gilt, verändert sich im Lauf der Zeit. Foto: Fotolia

Die Schönheit der Menschen ist ein Geschenk der Götter – und auch ihr Fluch. Wegen schöner Frauen wurden Kriege geführt und Vermögen verschleudert. Schönheit ist eine wirkungsstarke Macht in der Menschheitsgeschichte. Andererseits: Schöne Frauen und Männer haben bekanntlich einen biologisch-sozialen Bonus im Leben: bei der Partnerwahl, im Beruf und im Freundeskreis. Schönheit macht nicht selten aber auch einsam. Und obendrein: Nicht nur Narziss litt unter der Faszination seiner Schönheit. Heute ist Narzissmus ein Massenphänomen. In der Massenkultur und deren Machbarkeitswahn mit einer Flut von Kosmetika, Diät- und Fitnessangeboten sowie überquellenden Modeboutiquen und den überfüllten Kliniken der Schönheitschirurgen ist ein weniger attraktives Aussehen wie ein Makel, ein Zeichen von Charakterschwäche, Phantasielosigkeit oder Faulheit gar.

Der Körperkult ist längst zu einer Ersatz-Religion geworden.

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste (der Schönste) im ganzen Land. Dem perfekten Body gebührt der Preis. Der Körperkult ist längst zu einer Ersatz-Religion geworden. Ihm gibt man sich mit Haut und Haar bedenkenlos hin. Der Körper ist zur Projektionsfläche von phantastischen und meist total unrealistischen Wünschen und Träumen mutiert.

Wie stark ist der Einfluss von Idealbildern?Hier haben wir sieben Thesen dazu aufgestellt.

90 Prozent der Frauen sollen in Deutschland mit ihrem Aussehen unzufrieden sein. Das Bewusstsein bestimmt auch das Gefühl, schön oder hässlich zu sein. Das objektiv Schöne gibt es nicht. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg zur Schönheit. Wenigstens suggerieren uns das die Werbung und die makellosen, per Photoshop perfekt geschönten Models und Dressmen in den Hochglanz-Postillen der boomenden Lifestyle-Branche.

„Das Richtigste ist das Schönste“ – meint das Orakel von Delphi

Man wird die Frauen und Männer, die sich nicht attraktiv genug fühlen und mit ihrem Spiegelbild hadern, kaum damit trösten können, dass dem Schönheitsideal ein sehr relativer Maßstab zugrunde liegt. Was den Menschen als schön und begehrenswert erscheint, ist den Lebensumständen und den Moden der Zeit unterworfen. Schon das Orakel von Delphi gab zur Schönheitsfrage Auskunft: „Das Richtigste ist das Schönste.“ Aber, was ist das Richtige und dann auch noch das Richtigste? Darauf hatten natürlich die alten Griechen auch eine Antwort. Deshalb schrieben sie auf die Mauern des delphischen Tempels drei Mahnungen: „Beachte die Grenze“, „Hasse die Hybris“ und „Nichts im Übermaß“. Dieser Fingerzeig ist in unserer Zeit nötiger denn je.

Schönheit ist eine Frage der Mathematik. So wenigstens sahen es die Pythagoreer. Ob bei einem Bauwerk oder dem menschlichen Körper: es kommt auf die Proportionen an, auf die Anordnung der einzelnen Teile zu einem vollendeten Ganzen: auf den berühmten Goldenen Schnitt. Platon verstieg sich gar dazu, den Körperbau eines Menschen als ein symmetrisch geordnetes Ganzes zu preisen, das dem Kosmos proportional nachgebildet sei. Die griechischen Jünglingsstatuen zeugen von dieser Ideologie, ob das nun der Apollo vom Belvedere oder der Speerträger des Polyklet ist: knabenhaft zart und schmalhüftig der Gott, muskulös mit breiter Brust und putzig unschuldigem Pimmelchen der Krieger. So hatten es die alten Griechen gern. Heute säßen sie samt und sonders als Päderasten hinter Schloss und Riegel.

Was aber leitet unser Bewusstsein vom Schönen? Es ist allemal das Sein, das unserer Phantasie Flügel verleiht – oder sie uns gehörig zurechtstutzt. Mit dem Schönheitsideal der Griechen hätten die Steinzeitmenschen wenig anfangen können. Das berühmteste Moppelchen der Menschheit, die Statue der „Venus von Willendorf“ – 25 000 Jahre vor Christus – zeigt uns eine weibliche Gestalt mit schwellendem Bauch und überdimensionalen Brüsten. Sie stellt ein Fruchtbarkeitssymbol dar.

Die Historie der Schönheit ist mehrheitlich weiblich

Das Schönheitsideal, über Jahrtausende betrachtet, geht regelrecht durch dick und dünn. Oft genug wiederholt es sich. Wenn man einmal unsere Urahnen in den Höhlen der Steinzeit außer Acht lässt, darf man in der Geschichte der Schönheit getrost bei den alten Ägyptern anfangen, respektive bei deren Frauen. Denn die Historie der Schönheit ist mehrheitlich weiblich. Die der Männer gibt es zwar auch, siehe das antike Hellas. Sie verläuft aber nach anderen Gesetzmäßigkeiten. Wenn man nicht gerade auf Lustknaben aus ist oder selbstverliebt als Dandy durchs Leben schreitet, spielt Macht eine zentrale Rolle bei der Beurteilung männlicher Schönheit. Das beste Beispiel ist Napoleon, klein von Gestalt, mit einem deutlichen Bauchansatz und einer gelblichen Haut. Die Damen lagen ihm trotzdem reihenweise zu Füßen – und nicht nur dort.

Runder Bauch und kleine Äpfelchen

Im Mittelalter war die weibliche Schönheit idealerweise madonnenhaft keusch und mädchenhaft, geradezu kindlich – zumindest wenn man der Kunst Glauben schenken darf. Wie kleine Äpfelchen sollten die Brüste sein. Im Gegensatz dazu sollte der Bauch wohlgerundet deutlich hervorspringen. Das galt als besonders erotisch. Um mit einer hohen Stirn zu glänzen, zupften sich die Frauen die Haare am natürlichen Haaransatz einfach aus.

Körperfülle widerspricht dem bürgerlichen Leistungsideal

Die Sanduhr-Figur mit schmalster Taille erreichten die Rokoko-Damen nur mit dem Folterwerkzeug eines Korsetts. Das blieb den Frauen in veränderter Form bis Anfang des 19. Jahrhunderts nicht erspart. Die Berührung mit Wasser galt in den Rokoko-Schlössern und in den Salons als unhygienisch. In den Perücken trug man Flohfallen. Die Gesichter waren weiß geschminkt, übrigens auch die der Herren.

Im 19. Jahrhundert ist das Bürgertum auf dem Vormarsch. Man nahm an der klassischen Antike Maß. Die Perücke landete auf dem Kehrichthaufen der Modegeschichte. Der strebsame Mann vermied es, sich herauszuputzen. Die Romantiker schwärmten die zerbrechliche Frau an, das holde Wesen. Körperfülle oder gar Fettleibigkeit vertrug sich nicht mit dem bürgerlichen Leistungsideal.

Im 20. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg, setzte sich dieser Trend verstärkt fort. Flachbrüstige Frauen mit jungenhafter Figur und Bubikopf-Frisur galten als besonders attraktiv. In den Dreißiger- bis Fünfzigerjahren setzte Hollywood die Schönheitsstandards.

Die männliche Schönheit, präziser deren Attraktivität, ist noch immer stark in den Gesetzmäßigkeiten des Tierreichs verwurzelt. Dort ist sie eine der stärksten Triebkräfte. Je prächtiger die Schwanzfedern eines männlichen Vogels, desto zahlreicher sind die befruchteten Eier. Je schöner das Männchen, desto größer sein erotischer Erfolg.

Schönheit ist für allzu viele immer noch ein Versprechen auf Glück.

Unrealistische Attraktivitätsstandards werden uns in den Medien als unbedingt erstrebenswerte Norm vorgegaukelt. Die wenigsten können da mithalten. Das hat dramatische Folgen. Immer mehr Menschen bleiben Single. Besonders Männer können selbst dem suggerierten Schönheitsanspruch nicht genügen, sind aber so wählerisch, dass sie sich nur in die Frau mit den strahlenden großen Augen, der Mannequin-Figur und dem tollen Busen verlieben können. Für die Frauen muss es der erfolgreiche Held à la George Clooney sein. Schönheit ist für allzu viele immer noch ein Versprechen auf Glück. Doch je mehr wir uns auf eine dieser Traumfrauen, einen dieser Traummänner versteifen, werden wir unzufrieden mit dem, was wir haben könnten.

Eine ganz andere Schönheit

Shakespeare erinnert uns: Alle Welt ist eine Bühne. Und alle Frauen und Männer bloße Spieler. In diesem Spiel übernimmt nun einmal die Schönheit eine Hauptrolle. Die Schönheit, die Dichter und Philosophen meinen, ist aber nicht nur ein körperliches Merkmal. Sie hat viel mit der Schönheit der Seele zu tun. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hier finden Sieweitere Geschichten aus unserem Wochenenen-Magazin „nr. sieben“.