Geschichte
An Wunden rühren, die niemals heilen

Ehemalige KZ-Häftlinge stellen sich gerne dem Objektiv des Regensburger Fotographen Stefan Hanke. So bleibt die Erinnerung an die Opfer lebendig.

20.01.2013 | Stand 16.09.2023, 21:02 Uhr
Reinhold Willfurth

Einer der ersten Häftlinge im Konzentrationslager Auschwitz war Kasimir Smolen. Der Pole leitete 45 Jahre lang die Gedenkstätte.Foto: Stefan Hanke

Irgendwo bei Stamsried (heute Kreis Cham) ist es Josef Salomonovic gelungen, den Mördern in Uniform zu entkommen. Er versteckt sich in einer Scheune. Plötzlich raschelt es im Hintergrund. Ein Soldat baut sich vor ihm auf. Er ist groß wie ein Schrank, und er ist schwarz: ein Fallschirmspringer der US-Armee, der in jenem Frühjahr 1945 hinter den feindlichen Linien abgesprungen ist und jetzt Zeuge des Todesmarsches vom KZ Flossenbürg nach Dachau wird, einer der letzten Blutspuren der SS vor ihrem Untergang. Der GI wuschelt dem jungen Häftling, noch ein halbes Kind, aufmunternd durch die Haare. Bevor er verschwindet, schenkt er ihm ein kleines Modellflugzeug.

Unglaubliche Geschichten wie diese bekommt Stefan Hanke immer wieder zu hören, wenn er mit Überlebenden des Naziterrors spricht. Seine Gesprächspartner erzählen mal gelassen, mal in aufgewühltem Zustand. Manche haben verziehen, was ihnen angetan wurde, manche sind wütend. Allen ist anzumerken, welche unheilbaren Wunden der Aufenthalt in einem Konzentrationslager geschlagen hat.

„KZ – überlebt“ lautet der Titel des Projekts, mit dem der Regensburger Fotograph die Erinnerung an das, was seine Protagonisten durchmachen mussten, lebendig erhalten will – vor allem für die Zeit, in der diese Menschen nicht mehr auf der Welt sein werden. „Ich erhalte jede Woche Todesnachrichten“, sagt Hanke. Umso wichtiger sei es, jetzt noch aus erster Hand zu erfahren, was es heißt, gehasst, gequält, gedemütigt und geschunden zu werden, nur weil einem Machthaber Herkunft, sexuelle Orientierung, Glaube oder politische Gesinnung verhasst sind.

Ausstellung im Bundestag

„Es ist eigentlich fünf nach zwölf für so ein Projekt“, sagt Hanke. 75 ehemalige Häftlinge der Nazi-Konzentrationslager hat er bislang porträtiert. Neun der großformatigen Schwarz-weiß-Aufnahmen sind ab Ende Januar anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus in einer Ausstellung im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags in Berlin zu sehen. Ein vorläufiger Höhepunkt seiner Arbeit sei das, sagt der preisgekrönte Fotograph stolz.

Schon in jungen Jahren hatte sich Hanke für das Unrechtsregime der Nationalsozialisten interessiert – nicht immer zur Freude der Erwachsenen. Er solle sich doch lieber einmal mit rotem Terror beschäftigen, habe ihm sein Schuldirektor geraten. Als Realschüler hatte Hanke in der KZ-Gedenkstätte Dachau die Relikte des Terrors mit der Kamera festgehalten.

Wie kommt man in Kontakt mit ehemaligen KZ-Opfern? Hanke fasste sich 2004 ein Herz und wandte sich an Otto Schwerdt. Der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Regensburg hatte ihm durch seine unermüdliche Arbeit als Zeitzeuge imponiert. Schwerdt machte Hanke Mut: „Es gibt noch viele von uns.“ Das Porträt des mittlerweile verstorbenen Schwerdt wird zur Titelseite des Buchs, das Hanke hofft bis in zwei Jahren fertigzustellen. Auf dem Foto sind nur Gesicht, die linke Hand und der linke Arm Schwerdts zu sehen. Erst auf den zweiten Blick ist die Tätowierung mit der Häftlingsnummer zu erkennen.

Einen Tag nachdem die polnische Schriftstellerin Sofia Posnysz für ihre Verdienste um die Aussöhnung mit Deutschland mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, kehrte sie mit Stefan Hanke an den Ort ihrer Leiden zurück. Noch mit dem deutschen Verdienstorden am Revers und ihrer Häftlingsnummer am Unterarm ließ sie sich im Frauenlager des KZ Birkenau aufnehmen. Eine zarte Romanze mit einem katholischen Mithäftling hielt sie an diesem schrecklichen Ort am Leben. Der junge Widerstandskämpfer wurde hingerichtet wurde. Vorher schenkte er ihr ein Jesus-Medaillon. Sofia Posnyz trägt es noch heute. Auf Hankes Fotographie ist es schön zu sehen.

Adolf Burger hat Hanke vor dessen Wohnungstür in Prag aufgenommen. Burger wäre beinahe sein Vorname zum Verhängnis geworden, denn die wahrheitsgemäße Antwort auf die Frage nach seinem Namen hielt ein SS-Mann für eine Verunglimpfung des Führers. So trat Burger seinen Dienst in der legendären Fälscherwerkstatt des KZ Sachsenhausen mit eingeschlagenen Zähnen an. Die Häftlinge sollten mit gefälschten Pfundnoten den britischen Staat destabilisieren helfen, einer der wahnwitzigen, von Burger todesmutig sabotierten Ideen der Nazis. „Ein ganz harter Brocken“ sei Burger gewesen, sagt Hanke voller Respekt vor den todesmutigen Sabotageakten des genialen Fälschers.Tief beeindruckt war der Fotograf auch vom Besuch bei Shlomo Venezia. Der römische Jude musste als Mitglied des „Sonderkommandos“ im Vernichtungslager Birkenau zwei Jahre lang Tausende von Opfern in die Gaskammern begleiten. „Er sprach seelenruhig“, erinnert sich Hanke. „Gestern Nacht hat er wieder geschrien“, berichtete ihm Venezias Ehefrau später.

Ein kleines Flugzeug als Talisman

Doch die ehemaligen Opfer lassen es zu, dass an ihre Wunden gerührt wird. Eine Chance auf vollständige Heilung haben sie ohnehin nicht. Und die Arbeit von Stefan Hanke sorgt dafür, dass viele Ex-Häftlinge am Ende ihres Lebens ihre große Hoffnung erfüllt sehen: Dass die Erinnerung an ihre toten Leidensgenossen nicht stirbt. Ljubisa Letic, der sich einst im Flossenbürger Außenlager Hersbruck fast zu Tode schuftete, hat die Hände Stefan Hankes genommen und ihm gedankt, „dass wir nicht vergessen haben“.

Damals gab es fast nichts, an das sich die Opfer des Naziterrors klammern konnten, außer der vagen Hoffnung auf ein besseres Leben nach diesem Wahnsinn. Auf Hankes Porträt von Josef Salomonovic, gemacht beim letztjährigen Treffen ehemaliger Häftlinge in Flossenbürg, hält dieser ein kleines Flugzeug in der Hand und lächelt verhalten. Es ist der Spielzeugflieger, den der GI ihm vor 67 Jahren in der Scheune bei Stamsried geschenkt hat. Er trägt ihn immer bei sich.