Menschen
„Ich musste vor Augusto Pinochet tanzen“

Theaterfreunde erinnern sich an Angel Ureta. Gössler hatte 1991 den Chilenen geholt. Seine Familie war Opfer des Putsches.

05.08.2017 | Stand 16.09.2023, 6:21 Uhr
Helmut Wanner

Spiegelungen: Angel Ureta im Ballettsaal der Volkshochschule im Thon-Dittmer-Palais. Hier gibt er Unterricht. Foto: altrofoto.de

„Die Frisur ist gerade sehr in Mode in Chile“, sagt Angel Ureta, der Ballettlehrer. Noch vor fünf Jahren hatte er lange schwarze Haare. Mit seinem „Iro“ wirkt er wie der Bruder von Arturo Vidal (FC Bayern). Faltenlos, das Gesicht, mit Kapuzen-T-Shirt – sieht so ein Mann aus, der den 60. hinter sich hat?

„Mein Vater, ein Sozialist, wurde arbeitslos. Weil er auf einer schwarzen Liste stand, konnte er keine Arbeit finden“Angel Ureta„Ich heiße Angel Enrique Ureta-Espinosa,“ beginnt er. Im Februar 1957 wurde er als erstes von 12 Kindern in Santiago de Chile geboren. „Meine Mutter, Adela, war Hausfrau und mein Vater arbeitete in einer Fabrik für Metallverarbeitung. Im Jahre 1973 war Militärputsch. Mein Vater, ein Sozialist, wurde arbeitslos. Weil er auf einer schwarzen Liste stand, konnte er keine Arbeit finden.“ Angel wurde zum Familien-Engel.

Der Duft von Kaffee, Eiern und Speck zieht durch die Mokka-Bar in der Brückstraße. Als Angel sein Leben zu erzählen beginnt, ereignet sich im Zuhörer ein Zeitsprung. Aus dem Kopf kann er den Refrain „el pueblo unido jamas sera vencido“ singen, wie einst im „Ambrosius“, Neli Färbers Vorgänger-Café. Die Bedienung ist zu jung, um Victor Jaras Lied der chilenischen Revolution zu kennen.

Alleine in einem rosa BallettsaalDass Angel Ureta zum Ballett kam, war Zufall. Als 10-jähriger begleitete er für ein Taschengeld zweimal in der Woche ein Nachbarmädchen in den Ballettunterricht. „Ihre Ballettlehrerin fragte mich immer wieder, ob ich nicht auch Ballett lernen wollte. Irgendwann sagte ich zu. Man führte mich in einen rosa Ballettsaal, dort blieb ich allein, ungefähr 30 Minuten und dachte mir: Was mach ich hier? Ich fühlte mich nicht wohl zwischen den vielen kleinen Mädchen – wollte ich doch Fußballer werden, so wie es sich jeder kleiner Junge in Chile erträumt.“ Angel verließ die Ballettschule. Als er in der Schule Probleme bekam, durchsuchte er zwei Monate lang mit seinem Vater die Mülltonnen nach Alteisen und Flaschen. Eines Abends saß er mit seiner Mutter in der Küche. „Sie sagte, versuch’s doch noch mal in der Ballettschule.“

Mit 16 Jahren ging Angel in die Companie und blieb. Ein Junge im Ballett – das kam in dieser Macho-Gesellschaft nicht gut an. „Als Vater erfuhr, dass ich Ballett mache, war er furchtbar enttäuscht. Er verbot mir, zusammen mit der Familie im Wohnzimmer zu essen.“ Angel zog es durch: Nach vier Monaten erhielt er eine Einladung für eine Förderklasse. Vier Monate später folgte ein Stipendium für die Ballettcompanie des Ballet Municipal de Santiago de Chile. Zwei Jahre später wurde er Gruppentänzer. Zwei Jahre darauf Halbsolist und schließlich Solist. „Mit meinen ersten Gagen fing ich an, die Schulden meiner Familie zu begleichen. Meine Mutter musste nicht mehr anschreiben.“ Langsam fand die Familie einen Weg aus dem Elend. Zwei seiner Geschwister verhalf er an die Universität. Ein Bruder ist Anwalt, eine Schwester Ärztin.

Sein Ballettmeister hat ihm die Tür zur Welt der Schönheit aufgemacht. Er ist ihm sehr dankbar dafür. Zehn Jahre tanzte er in der Companie des Ballet Municipal de Santiago de Chile. Für ein paar Monate folgte er einer Einladung des Ballettmeisters Alexander Minsk zum American Ballet Theater in New York City, aber er kehrte bald wieder zurück. „Ich vermisste meine Familie“. Aus dem Straßenjungen von Santiago de Chile war so etwas wie ein Star geworden. „Ich war in großen Solos in Schwanensee, Giselle, Nussknacker, Dornröschen, La Fille mal gardée, Copelia usw. zu sehen. „Als unsere Nachbarin mit einer ganzen Zeitungsseite über mich an der Wohnungstüre stand, trat die Wende ein: Mein Vater änderte seine Einstellung. Er war stolz auf mich.“

Angel Ureta erzählt seine Story äußerlich ungerührt. Er fand es nur eigenartig, vor dem Mann tanzen zu müssen, der seinen Vater zur Arbeitslosigkeit verdammt hatte, der die Demokratie im Blut gebadet und unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hatte. „Es war Carmen. Der Vorhang ging auf und Pinochet saß in seiner Loge. In seiner Uniform und der Sonnenbrille hat er ganz starr gewirkt.“

1981 fing er in Hannover an. Nach dem Riss der Achillessehne am linken Bein hatte sich Ureta entschieden, sein Glück in Europa zu suchen. Er erkundigte sich nach Choreographen mit neuen Ideen. Sein Weg führte ihn nach Hagen, Aachen und Osnabrück. „1996 entschied ich mich, freiberuflich als Gasttänzer zu arbeiten. Es folgten Engagements in Kassel, Lübeck, Trier, Detmold…“

„Ich habe mündlich vorgetanzt“Das Beste kam zum Schluss: Im November 1991 lud ihn das Arbeitsamt zum Vortanzen nach Regensburg. „In Regensburg erlebte ich den seltsamsten Vortanz in meinem Leben! Ich habe mündlich vorgetanzt. Im alten Theater war es im Ballettsaal verboten, zu springen und sich zu drehen. Ballettmeister Dieter Gössler fragte mich, ob ich große Sprünge machen könnte: Double Tours, Spagat seconde, Jete en tournant und ob ich gut drehen könnte. Ich sagte ja. Als ich heimkam, lag schon der Vertrag im Briefkasten.“

Seine Karriere währte 30 Jahre. Die Westside Story war seine letzte Aufführung. Seit 2001 arbeitet er als Choreograph und Ballettlehrer. „Unzähligen Mädchen und auch Jungs habe ich in der Volkshochschule die Grundlagen des klassischen Balletts beigebracht.“ Seit 16 Jahren ist Angel Ureta im Ballettpodium für die Förderklasse zuständig. „Hier habe ich meinen eigenen choreographischen Stil entwickelt und jährlich neoklassische Stücke zur Aufführung gebracht.“

Der erste Eindruck von der Stadt war trist und grau gewesen. Heute will er nicht mehr weg. Regensburg ist inzwischen die längste Station in seinem Leben. „Meine Heimat“, sagt er.