Stutthof-Prozess
Beihilfe zum Mord in 10.000 Fällen: Ehemalige KZ-Sekretärin (97) verurteilt

20.12.2022 | Stand 20.12.2022, 10:32 Uhr
Eine ehemalige Sekretärin im NS-Konzentrationslager Stutthof bei Danzig wurde nun verurteilt. −Foto: Marcus Brandt

Wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen hat das Landgericht Itzehoe eine ehemalige Sekretärin im NS-Konzentrationslager Stutthof bei Danzig schuldig gesprochen. Die Strafkammer verurteilte die 97 Jahre alte Irmgard F. am Dienstag zu einer Strafe von zwei Jahren auf Bewährung.



Irmgard F. hatte laut Anklage in den Jahren 1943 bis 1945 als Stenotypistin für den Kommandanten im KZ Stutthof gearbeitet, sie war damals zwischen 18 und 19 Jahre alt.

Deshalb fand das Verfahren gegen sie vor einer Jugendkammer statt. „Den Prozess konnte es nur geben, weil der Angeklagten ein besonderes langes Leben vergönnt war“, sagte der Vorsitzende Richter, Dominik Groß, zu Beginn seiner Urteilsbegründung.

Beihilfe durch Schreibtätigkeit

F. habe Beihilfe durch ihre Schreibtätigkeit, durch ihre Niederschrift der Kommandanturbefehle geleistet, begründete Groß die Entscheidung der Kammer. Ihr sei nicht verborgen geblieben, was in Stutthof geschah – „der Geruch von Leichen war allgegenwärtig“. Sie hatte Kenntnis von den Haupttaten im Lager, sagte der Richter, habe zudem von den extrem schlechten Bedingungen gewusst, unter denen die Gefangenen lebten.

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Das Gericht folgte mit seinem Urteil dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die beiden Verteidiger hatten hingegen einen Freispruch für ihre Mandantin gefordert. Sie begründeten dies damit, dass nicht zweifelsfrei habe nachgewiesen werden können, dass F. von den systematischen Tötungen im Lager gewusst habe. Die 97-Jährige hatte in ihrem sogenannten letzten Wort erklärt, es „tue ihr leid, was geschehen sei und sie bereue, dass sie zu der Zeit gerade in Stutthof gewesen sei“.

Angeklagte hatte zu Vorwürfen geschwiegen

Zu den gegen sie vorgebrachten Vorwürfen hatte F. im Prozess allerdings geschwiegen. „Wir hätten uns eine sprechende Angeklagte gewünscht, sie hat Schweigen bevorzugt“, sagte Groß dazu in seiner Urteilsbegründung. Dass sie in ihrem letzten Wort ihr Bedauern ausdrückte, habe jedoch gezeigt, dass das Verfahren auf sie gewirkt und sie zudem eine Rolle in Stutthof inne gehabt habe.

Für seine Mandantin sei das Urteil „ein wichtiges Signal“, sagte Stefan Lode, der drei KZ-Überlebende als Nebenkläger vertrat, nach der Verhandlung. „Wer mordet oder sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht hat, der wird auch nach Jahrzehnten noch verfolgt, der kann nie sicher sein.“

Stutthof war ein berüchtigtes Lager

Im Lager Stutthof bei Danzig hatte die SS während des Zweiten Weltkriegs mehr als hunderttausend Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten, darunter viele Juden. Etwa 65.000 starben nach Erkenntnissen von Historikern. Das Lager war berüchtigt für die absichtlich völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen. Die meisten Menschen starben an Seuchen, Entkräftung und Misshandlung. Es gab jedoch auch eine Gaskammer und eine Genickschussanlage.

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Das Verfahren gegen F. begann vor etwas mehr als einem Jahr und war einer von mehreren NS-Prozessen, die in den vergangenen Jahren gegen ehemalige Mitglieder der Wachmannschaften oder Lagerverwaltung von deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern geführt wurden. Mehrere Männer im Alter von über 90 wurden zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Itzehoer Verfahren war allerdings das erste mit einer Beschuldigten.

Hintergrund ist eine veränderte juristische Sicht auf Beihilfe zu dem Massenmord in NS-Todeslagern. Einfache Mitglieder von Wachmannschaften wurden für ihre Tätigkeit jahrzehntelang in aller Regel strafrechtlich nicht belangt. Inzwischen setzte sich allerdings die Ansicht durch, dass bereits jede Tätigkeit im Rahmen der Organisation eines Vernichtungslagers als Beitrag zu den dort begangenen Morden gewertet werden kann. Eine direkte Beteiligung an Tötungen ist nicht nötig.

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AFP

− dpa