Literatur
Bericht aus einem „Israel der gespaltenen Seele“

Der Historiker Gershom Gorenberg setzt mit seinem Buch „The Unmaking of Israel“ neue Akzente in der Nahostdebatte. Jetzt ist es auf Deutsch erschienen.

07.09.2012 | Stand 16.09.2023, 7:26 Uhr
Harald Raab

Als vor einem Jahr in den USA das Buch „The Unmaking of Israel“ von dem israelischen Historiker und mehrfach ausgezeichneten Bestsellerautor Gershom Gorenberg erschien, löste es lebhafte Debatten aus. Der orthodoxe Israeli fordert nichts weniger, als dass es eine zweite israelische Republik geben müsse, wenn sein Land nicht „ein Parierstaat“ werden wolle, in dem „eine ethnische Gruppe über die andere herrscht“.

Das Buch ist jetzt in deutscher Übersetzung beim Campus Verlag erschienen. Der deutsche Titel „Israel schafft sich ab“ ist nicht gerade glücklich gewählt. Er erinnert an Thilo Sarrazins höchst umstrittenes „Deutschland schafft sich ab“. Was bei Sarrazin gefährlicher Alarmismus ist, der auf Zustimmung der Stammtische schielt, ist bei Gorenberg eine ernstzunehmende Warnung vor einer Gefahr für Israels Demokratie, seine Stellung im Nahen Osten und in der Welt. Freilich birgt dieses unaufgeregte, nüchtern mit Fakten arbeitende Werk auch eine Gefahr in sich: Aus dem Zusammenhang gerissen, liefert es Munition für antiisraelische Hetze, für Antisemitismus gar. Aber nicht durch Verschweigen darf sich Solidarität mit Israel ausdrücken, sondern durch Unterstützung der Kräfte, die sich dafür einsetzen, dass der Marsch in eine Ethnokratie, der voll im Gang ist, gestoppt wird.

Gorenberg ist eine der wichtigen Stimmen Israels, die das Land als demokratischen Rechtsstaat vor der endgültigen Okkupation durch Nationalisten, Chauvinisten, ultraorthodoxe religiöse Eiferer und Rassisten bewahren wollen. Seine Analyse ist kenntnisreich und zeigt die Wurzeln der Fehlentwicklung seit der Staatsgründung 1948 auf. Er macht deutlich, wie sich der säkulare Staat in die Abhängigkeit religiös-nationaler Scharfmacher begeben hat. Die trommeln beharrlich für die Illusion eines Großisrael der Urväter zwischen Jordan und Mittelmeer. Er entlarvt das Lippenbekenntnis von Premierminister Benjamin Netanjahu und seines rassistischen Außenministers Avigtor Lieberman zu einer Zweistaatenlösung als das, was es ist: Inszenierung für das Welttheater. Dahinter gehe die völkerrechtswidrige Landnahme ungebremst weiter. Des Autors Position: „Ich schreibe aus einem Israel der gespaltenen Seele. Es wird durch seine Widersprüche nicht nur definiert; es läuft Gefahr, von ihnen zerrissen zu werden. Es ist ein Land mit unsicheren Grenzen und ein Staat, der seine eigenen Gesetze ignoriert.“

Drei Gefahrenpotenziale zeigt Gorenberg auf: den steigenden Einfluss der Ultraorthodoxen in Staat, Politik und Gesellschaft, das Besatzungsregime im Westjordanland mit dem rasanten Siedlungsbau und das Unvermögen, von einer ethnischen Bewegung zu einer auch in der Alltagspraxis funktionierenden Staatlichkeit mit gleichen Rechten für alle Bürger und Bürgerinnen zu kommen.

Der Historiker spricht den Ultraorthodoxen das Recht ab, zu definieren, was wahres Judentum sei. Gefährlich absurd die Hybris, die Beherrschung ganz Palästinas als göttlichen Auftrag anzusehen, historische Ansprüche auf ein in Gänze wiederzueroberndes heiliges Land über Menschenrechte und die Gebote der Vernunft zu stellen. Bedenklich auch: Die frommen Zeloten verweigern dem demokratischen Staat einerseits die Gefolgschaft, sind in einer neuen Strategie andererseits dabei, immer mehr Schlüsselstellungen im Staatsapparat zu erobern.

Das gelte auch für das Militär. Orthodoxe haben dort nicht nur eigene Einheiten. Auch das Offizierscorps werde immer mehr von Leuten besetzt, die Loyalität zu den religiösen Führern über den Diensteid zum Staat stellen. Bei der engen Verflechtung zwischen den radikalen Siedlern und religiösen Autoritäten könne das im Ernstfall heißen: Wenn einmal eine andere Staatsführung als die gegenwärtige zu wirklichen Friedensverhandlungen mit den Palästinensern bereit wäre und die besetzten Gebiete räumen wollte, könne sie sich bei der Durchsetzung einer meuternden Truppe gegenübersehen. Die Förderung des Siedlungsbaus definiert Gorenberg klar als Bruch des internationalen, aber auch des israelischen Rechts. Gleichermaßen die Behandlung der Palästinenser in den besetzten Gebieten, aber auch der 20 Prozent israelischer Staatsbürger, die zur arabischen Volksgruppe zählen.

Die Perspektiven für eine positive Zukunft? Strikte Trennung von Religion und Staat, gleiche Rechte für alle Staatsbürger, Aufgabe der Siedlungen. Gorenberg sieht keine Alternative zu einer fairen Zwei-Staatenlösung. Er erteilt überzeugend all denen eine Absage, die glauben, ein gemeinsamer Staat der Israelis und Palästinenser könne eine Lösung sein. Ein solches Gebilde würde erst recht zu Mord und Totschlag führen. Auch könne Israel nicht zugemutet werden, allen Palästinensern ein Rückkehrrecht zuzugestehen. Auch das würde über kurz oder lang den Staat Israel sprengen.

Seine Lösung ist der Weg der Vernunft: ein liberaler Nationalstaat mit klar definierten Grenzen. Allerdings hat das Problem noch eine andere Seite, die nicht Gegenstand des Buches ist: Wo ist bei den Palästinensern der zuverlässige Partner, mit dem man einen Friedensvertrag aushandeln kann, der hinterher auch eingehalten wird?