Werkschau
Der Blutmaler tief im Arlberg

Hermann Nitschs Orgien kitzeln alle Sinne. Jetzt wälzt der Bürgerschreck an noblem Ort die großen Fragen: roh und berührend.

11.07.2017 | Stand 16.09.2023, 6:26 Uhr

Hermann Nitsch vor einem Schüttbild in St. Christoph: Mit Blut und Farbe, Händen und Besen bearbeitet er die Leinwände. Foto: Philipp Schuster

Hermann Nitsch sitzt vor einem seiner monumentalen Schüttbilder, man muss beinahe sagen: er thront, auch wenn es ein einfacher Stuhl ohne Podest ist, auf dem er hier Hof hält. Wir befinden uns in der Kunsthalle arlberg 1800, einer noblen Kunst-Katakombe im „Hospiz“ von St. Christoph, von einem Hotelier in den Berg gefräst zur höheren Ehre der Kunst.

Hermann Nitsch, der österreichische Blutmaler und Orgien-Spielleiter, der letzte der Wiener Aktionisten, bittet zur Andacht: ein Hohepriester der Passion, der die Fragen der menschlichen Existenz künstlerisch verstoffwechselt. Er beantwortet Fragen von Journalisten, neben sich seinen geliebten Prinzendorfer Wein, und trinkt, mäßig und stetig. Der Rausch, hat er einmal der Fotografin Herlinde Koelbl bekannt, war ja oft seine Rettung. Später wird sich hier das Vernissagen-Publikum drängen.

Im Uterus unterirdischer Keller

Hermann Nitsch zeigt in St. Christoph eine luxuriös ausgestattete Werkschau mit an die 80 Arbeiten aus 40 Schaffensjahren. „Unter den Bergen“ heißt die Ausstellung, und Titel wie Ort sind unbedingt stimmig für einen Künstler, der im Innersten wühlt und immer wieder in die Tiefen des Unbewussten hinabsteigt. Er erzählt im Gespräch mit unserem Medienhaus von seiner Kindheit im Weinviertel, wo es in jeder Ortschaft eine Kellergasse gibt. Und von Bauern, die sich früher, im Winter, wenn wenig zu tun war, für Tage und Wochen in die Keller zurückgezogen hätten. „Die haben sich so wunderbare Straßen der Lust gebaut. Und da sind sie verschwunden, in den Uterus der unterirdischen Keller, und haben sich angesaut und gesoffen und einen wunderbaren Rausch erlebt.“

Hermann Nitsch über Geld, Kellerräume und Vergänglichkeit: hier im Video

In der Kunsthalle im Arlberg durchstreift der Besucher den ganzen Kosmos eines ungezähmten Œuvres, angefangen bei den wandfüllenden Blättern und Mappenwerken, in denen der Künstler ab den 1960ern die Architektur für sein Orgien Mysterien Theater entworfen hat. Die Räume für diese Feiern von Leib und Transzendenz breitet Nitsch als Innenschau in den Organismus aus, mit Querverweisen zu Bibel und Bacchus, zu Michelangelos Körperstudien und Freuds Seelenforschung. Blutbahnen und Muskeln, Drüsen und Nerven, Gedärme, Gehirnareale und Gebärmutter verbinden sich zu einem labyrinthischen Tempel, in dem sich der Betrachter lange verliert. Oder findet, je nachdem.

Impressionen von der Ausstellung „Unter den Bergen“ und der Eröffnung.

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Eine der ekstatischen Inszenierungen ist in einem Video präsent: Blut, Farbe, Gerüche, Musik, Tierkadaver, Eingeweide, eine Nackte auf einem Kreuz, Texte, Getrommel, Gesang, Raunen und Schreien steigern sich in Art einer schamanischen Liturgie, bis hin zum Sturz in den Sinnentaumel. Das ist roh, aber auch anrührend anzusehen, abstoßend und bannend zugleich. Gefühle und ein Strom von Gedanken über Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Freude setzen ein.

Das Video stammt von 2005. Hermann Nitsch war damals mit einer Adaption seines Orgien Mysterien Theaters im Wiener Burgtheater angekommen. Der Bürgerschreck, den Österreich in den 1960ern mehrmals inhaftierte, den Theologen und Tierschützer als wüsten Sudler beherzt befeindeten, durfte in die gute Stube der Alpenrepublik. Heute reüssiert der 79-Jährige als Staatskünstler. Seine Werke hängen in Sammlungen weltweit, seine Arbeiten erzielen sechsstellige Summen. Der Kunst tut es gut, dass sich die Erregungskurve verflacht hat; sie ist, befreit vom Skandal, zugänglicher geworden.

„Ich hab’einen Dreck gekriegt“

Beim Stichwort Geld, das ihn offenbar schmerzt, macht Hermann Nitsch einen Schwenk zu seiner Frau, die im Mai wegen Steuerhinterziehung zu 290 000 Euro Strafe verurteilt wurde. Er zoomt im Gespräch auf frühere Zeiten: „Man hat mich ausgehalten. Meine Freundinnen, meine verheirateten Frauen. Weil: Ich hab’ einen Dreck gekriegt für meine Sachen. Jetzt, vor kurzem, hat mir die Finanz unglaublich viel Geld abgenommen. Wo ich angefangen hab’, was zu verdienen, da hat der Staat nochmal zugegriffen. Zuerst hat man überhaupt nichts gegeben. Ich war schon sehr bekannt, aber ich hab’ in keiner Weise leben können davon.“

Die Blutbilder gehören inzwischen zum Must-have der internationalen Kunst-Community, und zwar gerade weil die Frage, ob das nun Kunst ist oder „a Sauerei“, noch ein wenig gärt – auch unter den Eröffnungsgästen im arlberg 1800. Einige sind vor allem wegen Florian Werner zur Vernissage gekommen. Sie wollen den Mäzen würdigen. Der Hotelier des legendären „Hospiz“ hat sich für 26 Millionen Euro einen Traum erfüllt. Der Vater Adi Werner schuf einen Keller mit einem weithin gerühmten Bordeaux-Magnum-Bestand, der Sohn baute 2015 die Kunst- und Konzerthalle nach State of the Art, teilfinanziert durch bis zu 3,5 Millionen Euro teuere Suiten.

Florian Werner war Nitsch-Meisterschüler. Ein Schüttbild des Hausherrn hängt deshalb am Zugang zur Kunsthalle und kokettiert ein bisschen mit Arbeiten des Prinzendorfer „Kollegen“.

Die Herzkammer der Werkschau ist der acht Meter hohe Hauptraum der Kunsthalle, Kathedrale genannt. Die Schüttbilder können sich hier wuchtig, in verschwenderischer Fülle bis unter die Decke stapeln. Die Leinwände, mit Eimern voll Blut und Farbe, mit Händen und Besen bearbeitet, berauschen den Raum. Das Blut ist braun, und was rot leuchtet, ist Farbe. Davor sind messgewänderhafte Malhemden auf Holzböcken drapiert.

„Rohes Fleisch fasziniert mich“, sagt Hermann Nitsch im Interview.

Das Setting ist einerseits stimmig, andererseits bizarr und kontrastreich. Am Arlberg trifft Kunst, die um den Ursprung von Leid und Leben kreist, auf schönste Landschaft und äußersten Luxus. Hier ist die Luft seidig-frisch und das Wasser kristallin-türkis. Hier kann man ein Chalet für 42 000 Euro am Tag mieten. Hier haben Formel-1-Pilot Sebastian Vettel oder die ukrainische Politikerin Julia Timoschenko ihre Zufluchtsorte.

2018 wird Hermann Nitsch 80. Der Rauschebart ist ausgefranster, der pralle Leib nicht mehr ganz so strotzend. Aber: Von Vergänglichkeit will der Kunst-Berserker hier im Bauch des Arlbergs nicht sprechen. „Alles fließt. Geburt, Leben, Tod, Auferstehung“, sagt er. „Es gibt nichts Fixes. Wir mit unserer Zeitlichkeit setzen irgendwie Punkte von Anfang und Ende. In Wirklichkeit gibt es kein Anfang und Ende. Es gibt das Ereignis der Schöpfung und das ist unendliche Bewegung.“

Die 150. Orgie in Tasmanien gefeiert

Hermann Nitsch wirft sich bis heute in diesen Fluss. Er schafft und schöpft, spritzt und schüttet unbeirrt. Gerade hat er in Tasmanien sein 150. Orgien Mysterien Spiel inszeniert. Dort blitzte ein Rest von Skandal auf. Der Künstler checkte laut Medienberichten unter gefaktem Namen im Hotel ein – aus Sicherheitsgründen.

2019 will Hermann Nitsch es noch einmal wissen. Er plant in Schloss Prinzendorf ein Orgien Mysterien Theater. Der Höhepunkt war 1998 eine Sechs-Tage-Orgie nach einer 1700-seitigen Partitur und mit angeblich 13 000 Litern Wein. Tierschützerin Brigitte Bardot reiste extra an, um zu protestieren. Aber diese Zeiten sind vorbei.

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