Gesundheit
Gegen Schwindel antrainieren

Bei einer Neuritis vestibularis verspüren die Patienten Drehschwindel und Übelkeit. Was es dann braucht, ist viel Übung.

14.11.2018 | Stand 16.09.2023, 5:52 Uhr |
Alexandra Bülow

Wenn sich schlagartig alles dreht, kann dahinter ein entzündeter Nerv im Innenohr stecken. Foto: Christin Klose/dpa

Alles dreht sich rasend schnell wie in einem besonders wilden Karussell. Wo oben und unten ist? Nicht mehr zu erkennen. Die Beine versagen, Übelkeit steigt auf, Hilflosigkeit macht sich breit. So beschreiben Menschen den Schwindel, der sie meist von jetzt auf gleich überfällt und in Panik versetzt. Es ist das typische Symptom einer Neuritis vestibularis, auch bekannt unter den Begriffen Neuropathia vestibularis oder einseitige Vestibulopathie.

Viele Namen für eine Erkrankung, bei der das Gleichgewichtsorgan - das Vestibularorgan - auf einer Seite oder beiden Seiten gestört ist oder ausfällt. Es sitzt im Innenohr beider Ohren und liefert ebenso wie die Augen und das propriozeptive System, eine Tiefensensibilität aus Muskeln und Gelenken, Informationen an das Gehirn. Das errechnet daraus blitzschnell, wie wir uns in unserer Umgebung orientieren. Bekommt das Gehirn nur noch von einer Seite Futter, gerät das System durcheinander. Die Folge kann der Schwindel sein.

Entzündung der Gleichgewichtsnerven

Als Ursache einer akuten Vestibulopathie wird eine Entzündung der Gleichgewichtsnerven oder der fünf Sensoren des Gleichgewichtsorgans im Innenohr vermutet. Die Sensoren erfassen permanent Kopf- und Körperbewegungen. „Die Entzündung kann ausgelöst sein durch einen Virusinfekt“, erläutert Prof. Frank Schmäl von der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Zum Beispiel Herpes. So ganz klar ist der Auslöser bisher nicht.

Wer einen Drehschwindel erlebt hat, sollte sich untersuchen lassen. Zunächst gilt es, einen Schlaganfall auszuschließen. Bildgebende Verfahren wie ein MRT allein reichen in den ersten Stunden nicht aus, sagt Schwindelexperte Schmäl. Er empfiehlt den HINTS-Test, der für „Head Impulse, Nystagmus, Test of Skew“ steht.

Sehr vereinfach gesagt, handelt es sich um einen wenige Minuten dauernden dreistufigen Test, bei dem der Arzt die Augenbewegungen des Patienten untersucht. Anhand dessen kann ein Spezialist erkennen, ob er es mit einem Schlaganfall oder einer Störung des Gleichgewichtsorgans zu tun hat.

Bei Letzterem bekommt der Patient zunächst ein Cortisonpräparat. „Der Gleichgewichtsnerv ist durch den Virusinfekt angeschwollen. Das Cortison lässt ihn abschwellen“, erklärt Schmäl. Die Dosis wird nach und nach herabgesetzt.

Auch Vomex, ein Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen, können Betroffene einnehmen, jedoch nicht länger als 48 Stunden. Solche Medikamente sedieren und dämpfen die Symptome. Das Gehirn braucht aber genau das Gegenteil. „Es muss merken, dass es falsche Signale bekommt, um dann gegenzusteuern“, erläutert Leif Erik Walther vom Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte.

„Es muss merken, dass es falsche Signale bekommt, um dann gegenzusteuern.“Leif Erik Walther, Deutscher Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte

Das funktioniert nach und nach, kommt aber umso besser voran, je schneller Physiotherapeuten mit dem Betroffenen das Gleichgewichtssystem trainieren. Das geht zum Beispiel im Stehen auf einem flachen Schaumstoffkissen - mal die Füße zusammen, mal voreinander. Dabei kommt es anfangs wieder zu Drehschwindel, zu Übelkeit und Angst. Betroffene müssen das aushalten, auch wenn sie sich eigentlich am liebsten ins Bett legen wollen. Das Gehirn lernt in Bewegung schneller, dass etwas nicht stimmt - und kompensiert den Ausfall.

Mehrere Minuteneinheiten pro Tag helfen

Einige Krankengymnasten sind spezialisiert auf die Behandlung von Schwindel und kennen die sogenannte Vestibuläre Rehabilitationstherapie. Zu ihnen gehört Ann Kathrin Saul vom Deutschen Verband für Physiotherapie (ZVK). „Wir trainieren auch die anderen Sinnesorgane wie Augen und Tiefenwahrnehmung“, sagt sie.

„Nach drei bis vier Wochen kommen Patienten wieder recht gut durch ihren Alltag“, ist Sauls Erfahrung. Voraussetzung ist, dass sie jeden Tag auch zu Hause üben. „Einmal am Tag eine halbe Stunde ist nicht nötig, besser sind immer mal Minuteneinheiten, die man in den Alltag einbaut.“

Etwa drei Monate braucht es, bis das Gehirn den Ausfall im Gleichgewichtsorgan kompensiert hat, sagt Schmäl. Trotzdem wird Betroffenen auch dann manchmal noch schwindlig - in Situationen etwa, in denen sich vorher der Drehschwindel gezeigt hat. Es handelt sich dann um psychischen Schwindel.

Die Angst vor dem Schwindel kann so allgegenwärtig sein, dass Patienten ihre Selbstbestimmung verlieren. Sie mögen nicht mehr Auto oder Rad fahren, beobachten unbewusst jede kleinste Bewegung und ob sie schwanken. Lässt dies nicht nach, sollten sie mit ihrem Arzt sprechen.

Bei der Hälfte der Patienten erholt sich das Gleichgewichtsorgan im Laufe der Zeit komplett. Bei der anderen bleibt der Ausfall, das Gehirn kompensiert ihn aber. So oder so lautet die gute Nachricht für Betroffene: Mit genügend Training bekommt man einen Drehschwindel in der Regel in den Griff.

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