Menschen
In der Raritäten-Praxis von Dr. Flipper

Fred Tümmler hat die Kraft und den Namen des klugen Delfins. Der Schwabelweiser wird 70 und denkt nicht ans Aufhören.

09.10.2015 | Stand 16.09.2023, 6:57 Uhr
Helmut Wanner
Jeder liebt ihn, den klugen Delfin: Dr. Fred Tümmler vor seinem Raritätenschrank in Schwabelweis −Foto: altrofoto.de

Der deutsche Arzt geht früher in Rente und arbeitet weniger, so stand es dieser Tage in der FAZ zu lesen. So gesehen, ist Dr. Fred Tümmler, Facharzt für Allgemeinmedizin und Urologe mit Praxis in Schwabelweis, kein deutscher Arzt. Er freute sich wie ein Kind, als vor zwei, drei Jahren die Pflicht zur Verrentung mit 65 aufgehoben wurde, und er dankt dem angeblichen Ärztemangel in Deutschland.

Tümmler steht jeden Tag um 6.15 Uhr auf, empfängt um 7 Uhr seine ersten Patienten. Abends um 20.30 Uhr endet oft der letzte Hausbesuch. Aber dann taucht er noch immer nicht ins Private ab. „Meine Patienten haben meine private Handynummer. Sie können jederzeit anrufen.“ Dieser Fred Tümmler steht mit 70 Jahren noch alleine in der Praxis.

Die Lust an der Provokation

„Ich bin ein wilder Alt-68er.“ 1968 hat er in München sein Medizinstudium begonnen. „Wir haben die Oper in München besetzt und die Schienen blockiert. Ho, Ho, Ho Chi Minh!“ Die Parolen wird er nie vergessen. Aber er ist natürlich längst darüber hinaus. Die Lust an der Provokation hat er sich jedoch bis heute bewahren können.

Am 12. Oktober wird er 70 Jahre alt. „Wenn’s geht, möchte ich bis 100 weitermachen“, scherzt er. Übers Wochenende taucht Tümmler erstmal ab. Er hat für seine Frau Christine, die Vollzeit im Praxisteam mitarbeitet, die drei Kinder und deren Partner ein Hotel in der Altstadt von Lissabon gebucht. Er freut sich auf Portwein, Pasteten, Kirschlikör und traurige Fado-Klänge.

Der Delfin ist sein Symboltier. „Warum Tümmler so gute Ärzte sind“ steht über einem Artikel, mit dem die Ärztezeitung 2003 aufmachte. Er hat den Ausschnitt gut sichtbar angebracht. Fürs Foto nimmt er den blauen Plüsch-Tümmler in die Hand, den ihm ein Kind schenkte, „weil Impfen gar nicht wehgetan hat“.

Augenbrauen und Bart sind eisgrau. „Ich schau aus wie Konfuzius“, spottet er über sich. Dr. Tümmler hat Vitalenergie. Die Stimme klingt immer ein bisschen heiser, passt aber gut zum sächsischen Zungenschlag.

In Tümmlers Praxis schaut der Patient auf Schritt und Tritt dem Tod ins Auge. Ärztekollegen gestalten ihre Praxis gerne lichtvoll. Hier aber tritt der Patient direkt in das Purgatorium ein. Eine arme Seele im Fegefeuer weist ihm den Weg zu Empfang und Wartezimmer, vorbei am Totenbrett. Im Ul-traschallraum hängt eine Röntgenaufnahme vom gesprungenen Schädel eines Selbstmörders, der aus dem 13. Stock gehüpft ist. Über der Liege in seinem Sprechzimmer blickt man auf eine seltene Szene einer Leichenbeschau aus dem 19. Jahrhundert: Der Arzt hält die Tabakspfeife in der Hand und betrachtet seinen Assistenten, der bei der Arbeit die Zigarette im Mundwinkel hält. „Die Anatomie habe ich geliebt“, bekennt Dr. Tümmler.

Fred Tümmler liebt Duellpistolen, Sezierbestecke und vor allem Totenköpfe. Sie grinsen in allen Größen aus dem Raritätenschrank in seinem Sprechzimmer. Tja, sogar auf die weißen Arzt-Schuhe hat er sich kleine Totenköpfe geklebt.

„Kabinett des Grauens“

Zu dieser Kulisse gibt Dr. Tümmler täglich das Kontrastprogramm. „Ich bin kein Drei-Minuten-Arzt. Ich schau den Patienten an, nicht den Computer.“ Sein Sprechzimmer, das auf „Kabinett des Grauens“ macht, verzichtet auf technisches Brimborium. Er will Kontakt halten. „Der ganze Mensch ist mir wichtig.“

Fred Tümmler kannte keinen anderen Berufswunsch, er wollte Mediziner werden. Geboren ist der Ingenieurssohn in Eythra, einem Dorf bei Leipzig, das dem Braunkohlebergbau weichen musste. Bis zu seinem 13. Lebensjahr hat er im Osten gelebt. „Unser Nachbar, Dr. Krausch, nahm mich mit auf Hausbesuche. Als mich der Lehrer einmal in der Schule fragte, was ich werden will, hab ich gesagt: Ich will das werden, was unser Onkel Doktor ist.“

Er ist es auch geworden. Nun blickt er auf 30 Jahre Praxis in Schwabelweis mit. Er ist dort so eingewurzelt, dass ihm die Einheimischen bizarre Fundstücke für seinen Raritätenschrank zu Füßen legen wie diesen halbmeterlangen Splitter einer 250 Kilo Sprengbombe der Amerikaner, die am 20. April 1945 um 13 Uhr Mittag über der Donaugemeinde gezündet wurde.

Die Patienten wissen: Ihr Doktor sammelt aus den Jahren 1933 bis 1945 alles, auch Mutterkreuze und Arztbiografien. „Ich will die Psychologie dieser Zeit begreifen. Es war die schlimmste Epoche unserer Zeit“, sagt er. „Der kulturelle Rückschritt war schrecklich. Bis 1933 hatte Deutschland die meisten Nobelpreisträger gestellt.“

Und heute? Dr. Tümmler versucht sich einen Reim darauf zu machen, dass immer mehr junge Männer in seiner Praxis über Potenz-Probleme klagen. Stress, die gewandelte Rolle des Mannes, der Feminismus, Überforderung– alles das schwäche den modernen Mann, stellt er fest.

Und auch die Mitmenschlichkeit nehme ab. „Es ist kälter geworden in Deutschland. In der Woche habe ich drei, vier Patienten im Minimum, die schreibe ich wegen Mobbing krank. Nein, die schieben das nicht vor, die sind einfach fertig. Wenn ich sie frage, wie’s geht, fangen sie zu weinen an.“

Er hat seine Doktorarbeit über die Geschichte der Psychiatrie im 19. Jahrhundert gemacht, war jahrelang Urologe im Caritas-Krankenhaus St. Josef und fuhr nebenbei als Notarzt. Mit vielen Patienten ist er per Du. Er mag sie. „Ohne Liebe könntest du das hier nicht machen,“ sagt er.