Sam trägt Nagellack. Nicht, weil er queer ist. Auch nicht, weil er Punk ist. Vielleicht ist er ein bisschen von beidem, aber in erster Linie gefällt ihm die Farbe einfach. Komplimente hat er dafür von Fremden aber noch nie bekommen. Höchstens komische Blicke.
Der Regensburger sagt: „Ich würde mir wünschen, dass es der Gesellschaft egal ist, was ich mit meinen Händen mache.“ Ist es aber nicht, glaubt er. Deshalb werden manche Protagonisten in diesem Artikel nur beim Vornamen genannt. „Und weil es nicht egal ist, ist bei mir natürlich auch ein klein wenig Provokation dabei“, sagt er und lächelt.
Sam sieht nicht aus wie ein Paradiesvogel. Eher wie ein normaler Student. Ist er ja auch. Er studiert Elektrotechnik, trägt Hemd und Festivalbändchen. Nur seine linke Hand fällt auf. Die Nägel heben sich deutlich von dem Weiß der Tasse seines Hafer-Capuccinos ab. Vier Finger sind mattgrau bemalt, nur der Daumen nicht. Weil: „Der sieht einfach doof aus mit Nagellack.“ Sam ist Teil der dritten Emanzipationswelle, wie sie Annkathrin Selthofer nennt. Sie ist Dozentin für Europäische Kostüm- und Maskengeschichte an der Akademie für Darstellende Kunst in Regensburg und erzählt: „Seit den 2000er Jahren geht es im Feminismus auch um die Männer.“ Und darum, dass sich Männer die Verspieltheit, die grellen Farben der Damenmode erobern. Und den Nagellack.
„Die Frauen waren Aushängeschilder“
Annkathrin Selthofer, Modeexpertin
Sam hat in der Oberstufe angefangen, gegen die strengen Modeideale seiner Privatschule zu rebellieren. Seine beste Freundin hat ihn darin bestärkt. „Bei ihr haben wir uns zusammen die Nägel lackiert und sind dann so in die Regensburger Innenstadt gegangen“, erzählt Sam. „Aber bevor ich heimgefahren bin, habe ich es schnell wieder runter gemacht.“ Er habe sich die irritierten Blicke der Eltern ersparen wollen. „Was die von mir halten, war mir schon immer wichtig“, sagt Sam.
„Das soll keine Verkleidung sein. Mode soll vielmehr unterstreichen, wer ich bin.“
Josef Mulzer
In den 1920er Jahren sei im Westen ein großes Interesse an der asiatischen Kultur aufgekommen. Deshalb hätten damals auch die deutschen Frauen begonnen, sich die Nägel zu färben. Mit Autolack und vorzugsweise in Rot, das stünde in Kombination mit roten Lippen für Wollust. Selthofer erklärt: „Die Hand war damals ein wichtiges Symbol für Weiblichkeit und wurde bei jeder Gelegenheit in Szene gesetzt.“ Die perfekte Hausfrau habe eben zierliche, geschmückte Finger. Denn: „Frauen waren Aushängeschilder.“ Dieses Rollenbild sei auch in der Werbung transportiert worden. Die schlanke und gestylte Hausfrau, die mit eleganter Handbewegung und roten Nägeln das neuste Kaffeemaschinenmodell präsentiert. „Die Werbung damals hat ausgesagt: Ich habe nichts in der Birne, sehe aber gut aus.“ Männer hingegen sollten nicht schön sein. Sie sollten arbeiten. Die Modeforscherin findet: „In gewisser Weise wurden dadurch sowohl Frauen als auch Männer klein gehalten. Frauen in ihrer Intelligenz, Männer in ihrer Vielfalt.“
Tims Antwort: „Klar.“ Tim ist im Hauptberuf Kameramann und im Herzen Rocker. Er trägt schwarze Band-Shirts, vorzugsweise mit Totenkopf-Aufdruck und hat mehr Bart als Gesicht. Seine linke Hand ist bis an die Fingerkuppen tätowiert. Tim erfüllt das Klischee eines harten Kerls. „Aber eigentlich ist es mir egal, was andere über mich denken“, sagt er. Deshalb bemalt auch Tim sich zu besonderen Anlässen die Nägel. In Schwarz, versteht sich. Üblich sei das in der Metal-Szene aber nicht. „Von Bekannten kam da schon auch mal der ein oder andere Spruch, von wegen ,Ey bist du schwul oder was?‘“
Mit bunt bemalten Nägeln fällt Mann auf
Leugnen kann er jedenfalls nicht: Mit Nagellack fällt Mann auf. „Natürlich will ich auch ein wenig provozieren“, gesteht er. Selbst in der eigenen Szene. Außerdem will er andere dazu ermutigen, schlichtweg das zu machen, worauf sie Lust haben. „Und wenn ein Dude sich schminken will, dann soll er das tun!“, sagt Tim. Make-up wäre für ihn persönlich aber nichts. „Das passt einfach nicht zum Bart.“ Doch bei aller Euphorie: „Es kam noch nie jemand zu mir und hat einfach gesagt: geiler Nagellack.“
Die Verunsicherung bei allem, was keinen klassischen Stereotypen entspricht, sei ein menschlicher Schutzreflex, sagt Selthofer. Denn: „Stereotype geben Halt und Sicherheit.“ Die Modeexpertin erklärt das so: Jeder Mensch baut vier Wände um sich herum auf. Die geben einen Rahmen für die eigene Identität und ein Gefühl von Sicherheit. Dieser abgesteckte Raum entspreche gewissen gesellschaftlichen Normen. Wer einen anderen Menschen in dessen vier Wänden sieht, könne ihn und sein Verhalten gut einschätzen. Denn der Bereich innerhalb dieser Mauer sei kalkulierbar. Wenn nun aber jemand aus diesen Mauern ausbricht, verunsichere das. Plötzlich sei unklar, wie der andere eventuell tickt.
Wie er reagiert, wenn man mit ihm interagiert. Und auch in der eigenen Identität könne man sich durch die bröckelnden Hauswände bedroht fühlen. Nicht, dass das Gegenüber noch anfängt, Zement aus den eigenen Wänden zu klopfen. „Deshalb fragt man sich bei einem Mann mit hoher Stimme, mit High Heels oder mit Nagellack sofort: Ist er trans? Will er eine Frau sein? Warum macht er das?“ Es gehe also nicht mehr nur um Optik, sondern in erster Linie um Identität. Denn ginge es um Ersteres, müsste die Frage lauten: „Ist das schön?“
Niklas findet: Ja. Nagellack ist schön. Besonders in Gelb, aber eigentlich ist alles in Gelb toll. Niklas ist drei Jahre alt und macht sich keine Gedanken über Geschlechterrollen, Genderklischees oder darüber, ob der pinke Nagellack zu den blauen Jeans passt. In Niklas‘ Welt ist schön, was bunt ist. Und was Mama Sara trägt. Die findet den Umgang ihres Sohnes mit dem Thema ebenfalls toll und lässt ihre Instagram-Community daran teilhaben. In einem Post schreibt sie: „Der Junge wechselt zwischen Autos spielen, Mama und sich mit Glitzer schminken, Feuerwehrmann sein, Nagellack tragen, Glitzerpumps klauen und wild toben hin und her und manchmal macht er auch alles gleichzeitig. Je bunter, desto besser, findet er.“
Die Bilder von Niklas mit Nagellack versieht sie mit dem Hashtag #lackmichdoch. Den Spruch hat Stand-Up-Künstler Moritz Neumeier erfunden. In einem Video, das er auf Facebook geteilt hat, erzählt Neumeier davon, wie sein Sohn im Kindergarten wegen seines Nagellacks gemobbt wurde. Er habe dem Nachwuchs erst erklären wollen, dass jeder machen darf, was ihm oder ihr gefällt. Doch dann habe er sich gedacht: „Als würde das irgendwas bringen.“ Neumeier grinst in die Kamera und erzählt: „Ich lebe ihm das jetzt vor. Ich lackier mir jetzt die Nägel. Das ist jetzt mein Ding!“ Dabei hält er seine tomatenrot lackierten Fingernägel ins Bild. Sein Fazit: „Sieht eigentlich ganz geil aus.“ Neumeier startete den Aufruf: Wer Bock hat, soll sich die Nägel lackieren und die dann posten. Weil es ihm „auf den Sack“ geht, dass schon kleinen Kindern beigebracht werde, wie Männer und Frauen zu sein hätten. Seitdem gibt es auf Instagram Hunderte #lackmichdoch-Posts, in denen Männer ihre bunten Nägel feiern.
„Sieht eigentlich ganz geil aus.“
Moritz Neumeier
Niklas und Sara machen begeistert mit. Außerdem habe der Lack neben der Optik noch ganz andere Vorteile, erzählt die Mama: „Niklas lernt durch den Lack, stillzuhalten.“ Schließlich geht die hübsche Glasur kaputt, wenn die Kinderhand direkt nach dem Auftragen gleich nach dem Spielzeugauto grabscht. Niklas habe in seinem Kindergarten in Hamburg noch keine negativen Erfahrungen mit den bunten Fingern gemacht, erzählt Sara. Gerade die Mädchen fänden Niklas‘ Look ganz cool. Lediglich der Opa habe einmal gesagt: „Das ist doch nix für Jungs.“ Niklas habe darauf aber sehr souverän reagiert, findet Sara. Ihr Sohnemann habe geantwortet: „Wieso, das sind doch schöne Farben?“ Niklas trägt seit ungefähr einem Jahr Lack. Nicht durchgehend, aber immer mal wieder. Begonnen hat es damit, dass sich Sara die Nägel bepinselt hat. „Ich habe ihn dann einfach gefragt, ob er auch will.“ Er wollte. Sara sieht Nagellack nicht als etwas typisch Weibliches. „Für mich ist das kein Make-up. Es ist einfach bunt, witzig und bringt gute Laune“, erzählt sie. Nur den Papa hätten sie bislang nicht von dem Trend überzeugen können. „Aber das ist ja auch ok“, findet Sara. Jeder solle das machen, was ihm gefällt.
Reine Blödelei sei der Lack aber nicht. Sara und ihr Mann würden darauf achten, in der Erziehung keine Rollenklischees vorzugeben. „Wenn man die Kinder lässt, finden sie eigentlich alles cool“, sagt Sara. Umso mehr ärgere sie sich über viele Kinderbücher. „Da sind auf der Feuerwehr-Wache nur Männer. Und die eine Frau sitzt am Schreibtisch und telefoniert.“ Sara will, dass Niklas lernt, respektvoll mit Frauen umzugehen. Er soll lernen, wie man Wäsche wäscht und wenn er Kindergärtner werden will, ist das ok. Wenn er Polizist werden will, auch. Lediglich toxische Männlichkeit wolle Sara in der Erziehung von Niklas fernhalten. Also beispielsweise Sprüche wie: „Jungs heulen nicht.“
Männer erkämpfen sich ihre Gefühle zurück
Sam sagt: „Ich finde mich schon sehr männlich.“ Aber auch er sei kein Freund von übertriebener Männlichkeit. Vielleicht mag er deshalb die bunten Nägel so gern. Als kleine, vermeintlich feminine Verrücktheit. Allerdings werfe der Lack in seinem Kopf viele Fragen auf. Beispielsweise, warum er zwar Nagellack cool findet, aber weder Handtaschen noch Make-up tragen würde. Oder, wie er es schaffen kann, zu seinem Style zu stehen, dabei aber keine konservativeren Familienmitglieder zu verschrecken. Seinen Eltern habe er zu Beginn erzählt, der Lack bewahre ihn vorm Nagel-Kauen. Als ihn seine Oma kürzlich auf die bunten Nägel angesprochen hat, habe er ihr erklärt, dass seinen Mitbewohnerinnen langweilig gewesen sei.
Auch Sam ertappe sich immer wieder dabei, wie er Menschen anstarrt, die etwas abseits der Norm an sich hätten. Er glaubt: „Da muss man auch irgendwie einfach hingucken.“ Manchmal seien ihm die Blicke allerdings unangenehm. „Man braucht viel Selbstbewusstsein und muss schon sehr mit sich im Reinen sein für den Look“, findet Sam. Das Selbstbewusstsein habe er nicht jeden Tag, manchmal ist er unsicher. Kein männliches Gefühl, oder?
„Man muss schon sehr mit sich im Reinen sein für den Look“
Sam
Sich Gefühle einzugestehen ist ein Recht, das sich Männer mühsam erkämpfen müssen, glaubt Annkathrin Selthofer. Die Künstlerszene sei Vorreiter darin. Nicht verwunderlich, dass Nagellack immer wieder Bestandteil in Jugendkulturen war. „Ganz stark kam der Lack mit David Bowie und Robert Smith in den 1970ern“, erklärt Selthofer. Die hätten mit den Geschlechterrollen gespielt. Es sei um Provokation gegangen. Und um ein politisches Statement. Das gebe es in der Mode oft, erklärt sie. So sei auch der Camouflage-Look einst Ausdruck des Protests von Gegnern des Vietnamkrieges gewesen. Heute sind die grünen Flecken keine Frage der Politik, sondern eine Geschmacksfrage. Selthofer glaubt: „Wenn heute immer mehr Männer Lack tragen, denkt da bald niemand mehr drüber nach.“
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