Geschichte
MG-Rattern hallt bis heute in den Ohren

Weltkriegs-Veteran Johann Lanzinger aus Völling kämpfte im Kurland-Kessel und war vier Jahre in russischer Gefangenschaft.

29.03.2015 | Stand 16.09.2023, 7:09 Uhr
Gregor Raab
Johann Lanzinger mit seiner Frau Franziska: Dass er zurückkam und sie kennenlernte, kann er manchmal immer noch nicht glauben. . −Foto: Fotos: cgo

August 1944: Annähernd eine halbe Million Soldaten der Heeresgruppe Nord sind im Baltikum von der Roten Armee umzingelt. Seit Wochen liefern sie sich mit den Sowjets einen erbitterten Stellungskrieg. Mit Unterstützung eingeflogener Kampfverbände rüstet sich die Heeresführung zum finalen Befreiungsschlag. An Bord einer Junkers 52 in Richtung des berüchtigten Kurland-Kessel sitzt Johann Lanzinger aus Völling. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er nichts von dem drohenden Unheil. „Das war ein einziges Blutbad“, sagt er rückblickend. Er hat das Inferno der Kessel-Schlachten überlebt, aber die fürchterlichen Erlebnisse lassen ihn bis heute nicht los.

Im Januar 1943 erhielt der damals 17-Jährige die Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Für sechs Monate kam er ins Saarland, dann an die französisch-spanische Grenze. Seine Arbeitskraft wurde hauptsächlich bei der Errichtung von militärischen Stellungen benötigt. Im Oktober folgte der Stellungsbefehl zur Wehrmacht. Kurz zuvor hatte Lanzinger die Nachricht vom Tod seines Bruders ereilt, der als Sanitäter in der Ukraine gefallen war.

Seit Geburt auf einem Auge blind

Wegen einer körperlichen Beeinträchtigung – Lanzinger ist von Geburt an auf dem linken Auge blind – stand für ihn aber noch die Chance im Raum, ausgemustert zu werden. Diese Hoffnung wurde von den Ärzten aber jäh zerstreut: Er ergab sich seinem Schicksal. Nach einer achttägigen Ausbildungsphase in einer tschechischen Kaserne wurde der junge Rekrut einem Infanterieregiment unterstellt und nach Weißrussland in das Gebiet um die Stadt Mogilev abkommandiert.

Seine Garnison hatte den Befehl, Eisenbahnbrücken und Schienen vor Partisanenanschlägen zu schützen. Daher ging Lanzinger mit seinen Kameraden täglich die Gleise ab. Er erinnert sich: „Wir haben nichts entdeckt. Die Bevölkerung war dermaßen eingeschüchtert, dass sich niemand traute.“ Der Terror gegen die Zivilisten kam unter anderem auf großen Plakaten zum Ausdruck, auf denen die Besatzer Widerstandskämpfern drohten, ihre Dörfer komplett auszulöschen, falls es zu Attentaten kommen sollte.

Die Lage war aussichtslos

Im Frühjahr 1944 dehnten die Sowjets ihre Angriffe aus. Lanzinger landete im nahen Witebsk, wo er unter hartem Drill an verschiedenen Standorten seine Ausbildung abschloss. Im April war die Rote Armee bereits bis Weißrussland vorgedrungen. Lanzinger wurde einer Panzerjäger-Abteilung zugeteilt, die sich um den Bau von Verteidigungsstellungen kümmerte.

Bald begriffen die Befehlshaber aber die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und ordneten den Rückzug an. An ein Erlebnis aus dieser Zeit denkt der 89-Jährige immer noch mit einem Schaudern zurück. Alle Einheiten wurden in Mogilev zusammengezogen, wo sie sich im Innenhof eines großen Anwesens zur Essensausgabe sammelten. „Es wimmelte nur so von Soldaten. Das ganze Gelände war voller Transporter, Geschütze und Rösser.“ Der Pilot eines sowjetischen Kampfflugzeuges erspähte die Menschentraube. Seine Bombe landete genau vor der Feldküche, an der sich auch Lanzinger angestellt hatte. Geistesgegenwärtig warf er sich hinter einer Kanone auf Boden. „Es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Als ich aus der Deckung kam, lagen überall die Toten.“ Annähernd 20 Landsern kostete der Angriff das Leben, Dutzende waren verletzt.

Viel Zeit zum Verschnaufen blieb Lanzinger nicht, denn die unaufhaltsam anrollenden russischen Divisionen trieben die Wehrmacht vor sich her. Binnen vier Wochen erreichten sie Polen. „Es waren fürchterliche Tage. Vor allem die blutigen Blasen an den Füßen haben mir zu schaffen gemacht.“ Anschließend bekam er zum ersten Mal acht Tage Fronturlaub.

Die Läuse krochen an ihnen hoch

Nach dem Wiedersehen mit seinen Eltern und Verwandten stieg er in Berlin in die JU 52, die ihn in den Kurland-Kessel brachte. „Als ich aus der Maschine kam, hörte ich schon das Rattern der Maschinengewehre.“ Seine Einheit wurde zu einem Abschnitt befohlen, der extrem umkämpft war. Von einer Hauptkampflinie konnte keine Rede mehr sein, das Gelände war eine wüste Kraterlandschaft.

Zu Beginn eines Gefechts schoss die Rote Armee die deutschen Stellungen mit Granatwerfern und Mörsern sturmreif. „Vier oder fünf Stunden hat der Russe pausenlos auf uns eingetrommelt.“ Die Verzweiflung und Anspannung stand den Soldaten ins Gesicht geschrieben. „Jeder ging auf seine eigene Art und Weise mit der Angst um. Einige rauchten, andere beteten. Etliche hielten dem Druck und dem Getöse nicht stand. Sie flüchteten plötzlich aus den Schützengräben. Der Russe hat sie sofort zusammengeschossen.“

Nach dem Dauerfeuer folgten die Angriffswellen, die in einem unglaublichen Massaker endeten. Aus ihren Stellungen heraus setzten sich die Landser mit ihren Maschinengewehren gegen die anrennenden Russen zur Wehr. „Ich weiß nicht mehr, was einem da alles durch den Kopf geht. Im Krieg gibt es kein Erbarmen, sondern nur das Bestreben, seine eigene Haut zu retten“, sagt Lanzinger. Sobald die Russen sich zurückgezogen hatten, wagten sich die Männer aus ihren Schützengräben, um die Leichen oder Verwundeten zu bergen. Viele Kompanien verzeichneten große Verluste oder wurden aufgerieben.

Die Russen ließen sie nie zur Ruhe kommen. „Nach mehreren Tagen Pause legten sie wieder los. Wir waren immer in Alarmbereitschaft und mussten bei Eiseskälte in unseren Gräben schlafen. Die Läuse krochen uns den Nacken hoch.“ Nach mehreren Monaten kam die Ablösung und Lanzingers Einheit zog sich zurück. „An allen Ecken und Enden kam es zu Feindkontakt. Wir haben uns harte Gefechte mit den Russen geliefert. Er wollte uns fertig machen. Die Kugeln pfiffen nur so an mir vorbei.“ So hat er auch noch die Bilder im Kopf, wie sein Oberstleutnant an der Halsschlagader getroffen wurde und qualvoll verblutete. Dieser Vorfall hat ihn tief berührt.

Hilflos und ausgeliefert

Wegen des zunehmenden Durcheinanders in der Führungsstruktur erhielten sie keine eindeutigen Befehle mehr. Oft kamen sie sich hilflos und ausgeliefert vor. Ein besonders mulmiges Gefühl beschlich Lanzinger, als seine Gruppe einen auf einer Anhöhe liegenden Gefechtsstand der Sowjets unter heftigem Granatbeschuss einnehmen musste. „Das hätte schlimm für uns enden können. Der Posten war aber unterbesetzt und sie haben schnell aufgegeben“, erinnert er sich. Doch die Mühe war vergebens, denn ein paar Tage später hatte der Gegner den Stützpunkt zurückerobert.

Nicht immer verliefen die Einsätze so glimpflich. Im Dezember 1944 wurde seine Einheit nach einem Durchbruch der Russen zerstreut. Beim Sammelpunkt schlug bei plötzlich aus dem Nichts eine Granate ein. Bei der Detonation riss es Lanzinger die Haut von der rechten Schulter. Doch er war hart im Nehmen und tat weiter Dienst. Einige Zeit später schlitzte ihm ein Granatsplitter den linken Arm auf. Sein Vorgesetzter hatte ihn gegen seinen Willen losgeschickt, ein Erdloch auszuheben. „Das Lazarett war für mich der Himmel auf Erden. Nach den Wochen auf dem Schlachtfeld habe ich zum ersten Mal wieder ein Bett gesehen.“ Nachdem ihm die Ärzte den Splitter entfernt hatten, wurde er im Januar 1945 auf einem Schiff aus dem Kurland-Kessel gebracht. Über Danzig gelangte er nach Braunschweig, wo er sich bei der Genesungskompanie 21 von den Strapazen erholen durfte. „Ich habe herausgefunden, dass meine Einheit kurz darauf aus dem Kessel abgezogen wurde. Meine Kameraden sind bei einem späteren Einsatz in ein MG-Feuer gelaufen. Alle sind gefallen.“

Er begreift bis heute nicht, warum ausgerechnet er als einziger überlebt hat. „Wäre ich damals nicht zum Schaufeln geschickt worden, würde ich wahrscheinlich nicht mehr hier sitzen“, meint der Zeitzeuge. Die Endphase des Krieges erlebte er bei den Panzerjägern im deutsch-tschechischen Grenzgebiet. „Es herrschte das blanke Chaos. Wir hatten der Roten Armee nicht mehr viel entgegenzusetzen. Viele unserer Soldaten waren zu jung und ohne Erfahrung.“

Sie redeten von der Entlassung

Am 8. Mai – Lanzinger war inzwischen bei der FLAK-Artillerie untergekommen – wurden sie mit der Kapitulation des Deutschen Reiches konfrontiert. Als Lanzinger und seine Begleiter damals einer langen Marschkolonne deutscher Soldaten begegneten, riet ihnen ein Oberstleutnant, sich dem Zug anzuschließen – und sich quasi in die „Obhut“ der Russen zu begeben. Der gesamte Trupp wurde auf einem tschechischen Gutshof untergebracht. „Zu diesem Zeitpunkt redeten die Russen noch immer von einer baldigen Entlassung“, erinnert er sich.

Im September 1945 kamen die Gefangenen in ein Hauptlager in Ungarn. Annähernd 30 000 Mann wurden dort zusammengepfercht. Vier Monate musste Lanzinger die kargen Essensrationen und die menschenunwürdigen Zustände ertragen, bis er den Befehl zum Arbeitseinsatz in Österreich erhielt. In einer Werkstatt wartete er Militärfahrzeuge der Sowjets. Durch verunreinigtes Trinkwasser erkrankte er aber bald schwer an der Ruhr.

Im August 1946 verluden die Russen die Deutschen auf Viehwaggons. Binnen zehn Tagen wurden die Männer nach Leningrad gebracht. „Es gab kein Wasser, es war heiß, man konnte kaum atmen“, sagt der Veteran. In den Pausen öffneten die Russen nur die Tore, um die Toten unter ihnen auszusortieren. Mit vielen Leidensgenossen schuftete Lanzinger in der Folge über drei Jahre hinweg in einer Werft.

Bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt hausten sie in notdürftigen Baracken. Erst im Jahr 1948 konnte er mit einem Brief an seine Eltern ein Lebenszeichen von sich geben. Im Dezember 1949 wurde er mit der Auflösung des Lagers in die Heimat entlassen. Mit dem Zug gelangte er nach Frankfurt an der Oder, wo er seine Entlassungspapiere erhielt.

Als er kurz vor Weihnachten am Bahnhof in Falkenstein eintraf, konnte er sein Glück nicht fassen. Trotz der Kriegserlebnisse hat sich Lanzinger schnell aufgerappelt. 1954 heiratete er seine Franziska, mit der er zwei Töchter bekam. Heute komplettieren drei Enkelkinder die Familie. Nach seiner Heimkehr führte er ein arbeitsreiches Leben. Zunächst arbeitete er 15 Jahre lang im Kloster Hofstetten, später war er bis zu seinem Ruhestand bei der Firma Bavaria Feuerlöscher tätig.

„Wer nicht dabei gewesen ist, kann das alles eigentlich nicht verstehen“, sagt Lanzinger rückblickend. An der Front erlebte er jeden Tag, wie grausam und brutal der Krieg ist. Ihm geht vor allem bis heute der Fanatismus der damaligen Anführer nicht in den Sinn. Ihre teils fragwürdigen Befehle kosteten unzähligen Soldaten das Leben. „Warum haben wir nicht früher aufgegeben? Dann hätten viele Männer gerettet werden können.“