Literatur
Rodinger Denker schreibt neues Buch

Der Rodinger Tobias Haberl argumentiert gegen die Entfremdung in unserer Gesellschaft an und zeigt neue Wege auf.

07.11.2019 | Stand 16.09.2023, 5:26 Uhr
Elisabeth Angenvoort

Autor Tobias Haberl im Cafe Loretta im Münchner Glockenbachviertel, wo weite Teile seines Buches entstanden sind Foto: Elisabeth Angenvoort

Es gibt Menschen, die mit einem einzigen Wort ein ganzes Spektrum von Assoziationen auslösen können. Tobias Haberl gehört zu diesen Wortkünstlern, wobei an dieser Stelle ausdrücklich von einzelnen Wörtern die Rede ist, noch nicht von den 271 Seiten seines neuen Buches „Die große Entzauberung“. Wir trafen den Autor im Café Loretta in München, wo er in den vergangenen eineinhalb Jahren an einem der hinteren Tische, sozusagen mit dem Rücken zur Wand, große Teile seines Buches geschrieben hat.

Während der Lektüre haben sich viele Sätze eingeprägt und begleiten unsere Autorin seitdem; einer jedoch besonders: „Wir konferieren, tindern, skypen, chatten (…) connecten und defrienden uns, nur plaudern tun wir kaum noch“, schreibt Haberl auf Seite 71. „Plaudern“, das ist so ein Zauberwort, in dem sich Möglichkeiten des Widerstands entfalten könnten, gegen die Wortlosigkeit unserer Gesellschaft.

Bedrückende Entfremdung

Auf dem kurzen Weg vom Café Loretta zu seiner Wohnung im Glockenbachviertel sagt Haberl noch so ein Wort: „verhuscht“, so sei die Gegend hier geworden im Vergleich zu früher; und im selben Moment empfindet man die Atmosphäre genau so, wie er sie mit diesem einen Wort einfängt. Es sind Veränderungen wie diese, die ihn veranlasst haben, dieses Buch zu schreiben: der Wandel von heiter zu „verhuscht“, so als würden die Menschen mit gesenktem Kopf zwischen eingezogenen Schultern herumlaufen.

Man habe das Schlendern ohne Eile verlernt, ebenso wie das ziellose Sprechen, das „Plaudern“, sagt Haberl. Man trifft sich in virtuellen Chatrooms, ohne sich je zu begegnen. Das reale Leben findet nicht mehr in der Wirklichkeit statt, und das ist erst der Anfang: Eines Tages werden wir nicht mehr merken, dass jede unserer Handlungen auf irgendeine Weise schon im Vorfeld fremdbestimmt und ferngesteuert ist.

„Seelen-Ort“ Bayerischer Wald

Und wieder findet Haberl ein besonderes Wort, in dem sich all das manifestiert, was er sagen will: Er spricht vom Bayerischen Wald als einem „großen Seelen-Ort“. Den Begriff „Seele“ verwendet auch die Schriftstellerin Thea Dorn in Bezug auf Haberls neues Buch. Ein „Seelenbad“ sei die Lektüre, schreibt Dorn auf Haberls Autorenseite; zumindest für diejenigen, die den Verlust der Lebendigkeit im digitalen Zeitalter als solchen wahrnehmen.

Das wiederum ist dem Autor „Trost und Bestätigung“: „Ich habe das Gefühl, Thea Dorn hat mich verstanden“. Nun könnte man sagen, wozu braucht es 271 Seiten, wenn man Gleiches auch in wenigen Sätzen formulieren könnte. Mit dieser Frage hat sich Haberl selbst konfrontiert. Er habe durchaus Bedenken, seine Leser zu ermüden, da er immer und immer wieder mit demselben Thema anfange.

„...nur plaudern tun wir kaum noch.“Tobias Haberl, Autor

Berechtigt, könnte man meinen, wenn Haberl auf Seite 203 zum wiederholten Mal an einem Beispiel schildert, warum es „dem Netzwerk gleichgültig“ sei, „ob es jemanden gibt oder nicht“. Und doch kann man nicht aufhören zu lesen, selbst wenn man zwischendurch versucht ist, vom Ende an rückwärts zu blättern, um dem Ganzen ein wenig die Last zu nehmen. Denn „nur angenehm“ ist diese Lektüre nicht, sobald man erkennen muss, dass Haberl die Wahrheit sagt, und zwar auf jeder einzelnen Seite.

Es mangelt an „Aufrichtigkeit“

Dabei ist es nicht seine Absicht, Panik zu verbreiten; vielmehr möchte er sensibilisieren und bewirken, dass die Leute genauer hinsehen: „Wo passiert etwas auf Kosten der Menschlichkeit?“ Und er skizziert Auswege, Möglichkeiten des Widerstands gegen die Entzauberung des Lebens. „Ich bin von allem angezogen, das wahrhaftig ist“, sagt Haberl, im positiven wie im negativen Sinn. Wenn die Menschen ihre „Dämonen“, ihre weniger guten, ja oft dunklen Tage annehmen könnten, wenn sie der Traurigkeit ihre Daseinsberechtigung zurückgeben würden, wäre einiges leichter.

Das BuchDer Autor
Die große Entzauberung: Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen. Blessing Verlag (Random House GmbH), 18,00 Euro. Ab dem 11. November ist das Buch auch im Handel erhältlich.Tobias Haberl, geboren 1975 in Roding, Abitur am RSG Cham, war zunächst freier Journalist und besuchte dann die Henri-Nannen-Schule Hamburg. Seit 2005 arbeitet er für das Magazin der Süddeutschen Zeitung.

Vielen Menschen mangelt es an „Aufrichtigkeit“, hat er festgestellt: wieder eines seiner besonderen Worte. Wer „aufrichtig“ ist, steht nicht mit gesenktem Kopf und Blick auf das Handy, sondern er erkennt sein Gegenüber auf Augenhöhe. Darum geht es. Wir sollten einander wieder öfter begegnen und einfach miteinander „plaudern“. Wir sollten den Mut dazu finden, uns einzulassen auf Dinge, die eben nicht berechenbar und planbar sind. Denn „der Zufall kann nicht nur bezaubernd, er kann auch klüger und gerechter sein als unsere Absichten“, schreibt Haberl.